Begriffe können zuweilen unterschiedlich interpretiert werden und damit kann man einen Unbedarften fürchterlich auflaufen lassen. Nennen wir dies semantische Trickserei. Was meinen wir damit? Ein Gesprächspartner versichert ihnen, er habe ihr Anliegen verstanden und ja, am Ende brauche es einen „differenzierten Ansatz“ bei PFAS. Haben Sie nun ihren Gesprächspartner, der den bisher vorliegenden Beschränkungsvorschlag verteidigt hat, mit ihren Argumenten überzeugt? Vermutlich nicht, denn wir müssen verstehen, dass man mit „differenziert“ ganz unterschiedliche Dinge meinen kann. In vielen Gesprächen mit Umweltministerien oder auch dem Umweltbundesamt hören wir, dass sie schon beim vorgelegten PFAS-Beschränkungsvorschlag ein differenziertes Vorgehen sehen. Warum? Bereits das Dossier betrachte zwei Alternativen: einen „full ban“ (RO1: restriction option 1) und ein Verbot mit anwendungsspezifischen Ausnahmeregeln (RO2). Als differenziert wird RO2 gesehen. Der „full ban“ steht in der öffentlichen Darstellung gar nicht mehr zur Diskussion.
Unsere Fragen gehen weiter: Gab es überhaupt eine Auswahl zwischen zwei Optionen, oder wurde RO2 als offensichtlich alternativlos ins Rennen geschickt? Es ginge auch anders: Im Vereinigten Königreich werden sinnhaftere Optionen diskutiert. Uns als Betrachtern scheint der aufgezeigte Lösungsraum unvollständig aufgespannt zu sein. Im Ergebnis wird RO2 dem Industriestandort EU den Garaus machen sowie die Ansprüche an Resilienz der EU im Allgemeinen und die Ansprüche an unsere Gesundheitsversorgung im Speziellen als Kollateralschaden aufgeben. Die Differenziertheit des RO2, auch mit in Aussicht gestellten Nachbesserungen, ist ein Brandbeschleuniger für die Deindustrialisierung. Bewahren wir einen klaren Kopf für eine gesellschaftlich sinnvolle Lösung.
Am Ende geht es um das gesellschaftliche Wohl und um eine gesellschaftliche, nicht eine rein technische Abwägung.
Umweltbehörden maßregeln die Industrie, wir sollten nicht von einem „Totalverbot“ sprechen. Ein PFAS-Totalverbot werde es nicht geben. Wie sollen wir das deuten? Es gibt ja Ausnahmen gemäß RO2! Wir sprechen beim richtigen Zuhören nicht von einem Totalverbot, wir sprechen von einem Pauschalverbot. Im Grundsatz ist bisher ein weitreichendes, pauschales Verbot vorgesehen, mit anwendungsspezifischen (nicht mit stoffspezifischen) Ausnahmen.
PFAS-Anhörung im Bundestag
Am 24. April 2024 findet im Umweltausschuss des Bundestages in Berlin eine Anhörung zu PFAS statt, bei der unter anderem Dr. Martin Leonhard, Vorsitzender Medizintechnik im Deutschen Industrieverband Spectaris, als Sachverständiger zu Wort kommen wird. Die Veranstaltung kann im Livestream verfolgt werden und ist im Nachgang als Video und Wortprotokoll öffentlich zugänglich.
Weitere Infos zu der Veranstaltung: Deutscher Bundestag - Anhörung zu per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS)
Deshalb ist inhaltliches Argumentieren notwendig
In der politischen Auseinandersetzung lassen wir uns Argumente nicht durch eine Monstranz verbieten, die sakrosankt vor uns hergetragen wird. In dieser Monstranz verbirgt sich „die Wissenschaft“, scheinbar erhaben über jeden Disput und außerhalb der politischen Diskussion. Unser Ansatz ist es, inhaltlich zu argumentieren. Das wünschen wir uns auch mehr von so manchem politischen Entscheidungsträger. Sapere aude, wage es zu denken, lautete schon der Leitspruch der Aufklärung! Nur wer die Inhalte gut genug versteht, kann fundiert entscheiden. Wissenschaft lebt vom kritischen Disput, Fragen und Experimente gehören zum Selbstverständnis von Naturwissenschaften. Wissenschaft ist keine unantastbare Instanz, die man nicht hinterfragen darf.
Wir fragen uns: Wie transparent arbeiten die wissenschaftlichen Echa-Ausschüsse RAC und SEAC? Ist es für nachgeordnete Entscheidungsträger der Kommission nachvollziehbar, wie persönliche Meinung und wissenschaftliche Erkenntnis separiert werden? Wie wird sichergestellt, dass Interessenkonflikte von Ausschussmitgliedern, die teilweise bei den Dossier-einreichenden Behörden angestellt sind, über deren Dossier sie urteilen, erkannt, angezeigt und gelöst werden? Aus unserer Sicht gehört dieser untergesetzliche Prozess mit extremer gesellschaftlicher Reichweite auf den Prüfstand. Demokratie besticht durch die Herrschaft des Volkes und seiner frei gewählten Repräsentanten, nicht durch die Herrschaft von Experten, die dazu noch hinter verschlossenen Türen, im Konklave, tagen. Am Ende geht es um das gesellschaftliche Wohl und um eine gesellschaftliche, nicht eine rein technische Abwägung.
Warum PFAS für die Minimalchirurgie wichtig sind
Was das PFAS-Verbot für die Medizintechnik und das tägliche Arbeiten in der Chirurgie bedeutet, wird im Podcast von Surgeon Talk besprochen. Moderator Prof. Dr. med. Stephan M. Freys, selbst Chirurg, spricht mit Michael Banghard, Senior Consultant Government Affairs bei Karl Storz. Hören Sie rein.
Sind wir uns sicher, dass mit dem Dossier kein systematischer Fehler begangen wurde, der nur schwer geheilt werden kann? Täuschen wir uns, dass Wissenschaftler die Welt vornehmlich durch die Brille der Gesamtschau wissenschaftlicher Publikationen betrachtet haben? Welcher Medizintechnikhersteller publiziert seine Konstruktionszeichnung in einem wissenschaftlichen Journal? Wir differenzieren uns gerade auch in der Medizintechnik durch wohl gehütetes Erfahrungswissen. Wie können wir uns anders erklären, dass Wissenschaftler selbst und Vertreter der Politik überrascht reagieren, dass die klinische Versorgung ohne PFAS-Hochleistungswerkstoffe zusammenbrechen wird? Die Dossier-Autoren hätten zum Äußersten greifen müssen: Sie hätten vor der Dossier-Erstellung eingehend mit den Stakeholdern, auch denen in der Industrie, sprechen müssen. Dieser Teil der eigenen Hausaufgaben wurde unzureichend erledigt. „Dazu sei ja die Konsultation vorgesehen“, so etwa der Präsident des Umweltbundesamtes kürzlich. Nein, ein leeres Blatt bei einer Klassenarbeit abzugeben und abzuwarten, wie die richtige Lösung bei der Rückgabe diskutiert wird, ist kein Ansatz, den wir als Gesellschaft hinnehmen möchten. 5.600 Eingaben bei der PFAS-Konsultation, fast zwölfmal so viel wie beim Dossier für Mikroplastik, ist ein Ungenügend für die Autoren des Dossiers. Im Ergebnis wird der Prozess zu lange dauern, nach der Publikation des neuen Zeitplans der Echa stehen bis September dieses Jahres weder Medizintechnik noch andere Hightech-Anwendungen auf der Agenda.
Bürokratie-Tsunami unausweichlich
Denken wir den vorliegenden Beschränkungsvorschlag weiter, so werden hunderte, vermutlich tausende neue Legaldefinitionen erforderlich, die den genauen Geltungsbereich beschreiben. Zieht man in Betracht, dass die EU schon Jahre darüber diskutiert, wie Nischenprodukte in der Medizintechnik zu definieren sind, sehen wir bei einem „Weiter so“ bei der PFAS-Beschränkung einen ungeheuerlichen Bürokratie-Tsunami auf uns zukommen. Warum? Weil uns bisher alle Gesprächspartner sagen: Rechnen Sie nicht mit generellen Ausnahmen für Medizinprodukte, rechnen Sie nicht mit generellen Ausnahmen für Fluorpolymere. Rechnen Sie mit sehr spezifischen zusätzlichen Ausnahmen. Im vorliegenden Beschränkungsvorschlag bekommen bei Medizinprodukten Schläuche und Katheter eine um zwölf Jahre erweiterte Übergangsfrist. Philosophieren wir: Was ist ein Schlauch?
Am Beispiel eines Resektoskops, das in der Urologie und Gynäkologie zur Gewebeabtragung mit Hochfrequenzstrom zum Einsatz kommt, benötigen wir eine flexible, hitzebeständige elektrische Isolierung, die Feldstärken von 20 kV/mm separieren kann. Für uns ist PTFE (Teflon) auch nach vielen Analysen mit Instituten alternativlos.
- Schlauchmaterial wird von einem Zulieferer, der selbst kein Medizinproduktehersteller ist, bezogen. Also ist das Schlauchmaterial nicht von der erweiterten Übergangsregelung abgedeckt. Können wir das Schlauchmaterial überhaupt noch beziehen?
- Der Schlauch wird auf einen Metalldraht aufgezogen, jetzt haben wir eine Resektionsschlinge, ein Medizinprodukt. Aber ist die gelb/orange Hülle noch ein Schlauch?
- Hier sind nun Juristen gefragt. Was ist eigentlich ein Schlauch? So könnten wir starten: „Ein Schlauch ist eine flexible Gesamtheit, durch die ein Medium, etwa eine Flüssigkeit oder ein Gas geleitet werden kann.“ Im vorliegenden Fall wäre die farbige Hülle kein Schlauch mehr, der Innenraum ist ir reversibel blockiert, dementsprechend nicht vom Ausnahmetatbestand abgedeckt.
Aber wir haben immerhin eine Definition, was einen Schlauch ausmacht. Es stellen sich folgende weitere Fragen:
- Ist ein Schlauch zwingend etwas, durch das ein Medium geleitet wird, oder ist ein Schlauch unabhängig von seiner Funktion definitionsgemäß ein Schlauch?
- Wie grenzt sich ein Schlauch von einem Rohr ab?
- Oder wie grenzt er sich von einer zylindrischen Durchführung im Vollmaterial ab?
- Wie grenzt sich ein kurzes Rohr von einer Hülse ab?
- Wie grenzt sich eine kurze Hülse von einer Dichtung ab?
Wenn man erkannt hat, die schlauchhafte Ummantelung des Metalldrahts auch mit einer Ausnahme zu versehen, gehen die Fragen übrigens weiter:
- Wie grenzt sich eine schlauchhafte Ummantelung von einer Beschichtung ab?
Sicherlich ist es möglich zu definieren, was der Gesetzgeber nun letztlich konkret unter einem Schlauch versteht. Es ist aber absehbar, dass die Komplexität neue Fragen aufwerfen wird, auch solche, die Gerichte beschäftigen werden. Das kann nicht Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft sein. Klar ist bereits: Der Bürokratie-Tsunami ist vorprogrammiert. Und er wird massiver ausfallen als bei der MDR, der Medical Device Regulation, die die Branche seit Jahren lähmt und dazu geführt hat, dass Medizinprodukte vom Markt verschwinden und die Patientenversorgung beeinträchtigt wird. Möchten Sie wissen, was die alten Griechen unter einem Katheter (Sonde) verstanden haben? So viel sei hier verraten: Mit dem, was wir heute darunter verstehen, hat das nur am Rande noch etwas zu tun. Viel Spaß beim Finden der entsprechenden Legaldefinition.
Was brauchen wir?
Wir brauchen einen faktenbasierten, risikobasierten Ansatz. Wir brauchen die Herausnahme der Fluorpolymere aus der Regulierung, und wir brauchen einen klugen Ansatz, bei dem die Lieferketten oder auch geschlossene Kreisläufe mitgedacht werden. Bei Produktion und End-of-Life müssen wir über Emissionen sprechen. Vorschläge und Erkenntnisse hierzu liegen auf dem Tisch. Ohne diese Hochleistungssubstanzen verlieren wir in der EU viel mehr als die medizinische Versorgung. Wer das nicht will, muss schnell handeln. Sonst verliert die EU die Menschen. Auch wenn wir an das Gute glauben, lassen wir uns nicht benebeln, nicht mit Valium oder mit semantischen Tricks.
Quelle: Spectaris
Was Sie über PFAS wissen müssen
Fluorpolymere und weitere fluorhaltige Substanzen sollen verboten werden. Eine ihrer herausragenden Eigenschaften – die Beständigkeit – könnte ihr Verbot bedeuten. Für Sie haben wir das Thema PFAS aus verschiedenen Blickwinkeln während der Widerspruchsfrist beleuchtet und halten Sie künftig zu PFAS-Alternativen auf dem Laufenden. Alles, was Sie zum Thema wissen sollten, erfahren Sie hier.
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