Darum sind Mikroformteile notwendig
Aus den Gegebenheiten der menschlichen Anatomie und aus dem Bestreben nach minimal- und minderinvasiven Operationstechniken resultieren sowohl für medizinische Geräte als auch für Implantate sehr kleinvolumige Formteile, die mit großer Präzision in einem beherrschbaren Prozess hergestellt werden müssen.
Am Kunststoff-Zentrum in Leipzig (KUZ) werden zahlreiche derartige Projekte bearbeitet, weil die hauseigene Mikrospritzgießmaschinenentwicklung Formicaplast mit einer Zweistufen-Kolbenspritzeinheit und Einspritzkolbendurchmesser von 2 bis 4 mm minimal erzielbare Schussgewichte und somit ein ausgewogenes Anguss-Formteil-Verhältnis bietet [1, 2].
Typische Vertreter dieses Trends sind Mikroformteile für Katheter (Katheterspitzen) und multifunktionale Spitzen in der Endoskopie. Letztere benötigen unter anderem abbildende Optiken. Die kleinste am KUZ bekannte spritzgegossene optische Linse mit einem Durchmesser von 1 mm und einem Schussvolumen von 12 mm³ wurde bereits 2005 von Jenoptik, Jena, und KUZ vorgestellt [3]. Diese Entwicklung ist aktueller denn je. Single-use-Optiken aus Kunststoff mit einem Durchmesser von unter 3 mm, bestehend aus mehreren Linsen und zusätzlichen Prismen für Beleuchtungsfunktionen liegen zur Zeit im Trend. Ein weiteres Beispiel für solche winzigen Formteile ist der Einsatz in neurovaskulären Anwendungen aus medizinischem TPE.
Mikroformteile kommen auf dem heutigen Stand der Technik nicht ohne einen Angussverteiler aus. Dessen Volumen soll in einem ausgewogenen Verhältnis zum Formteilvolumen stehen. Dies ist aus technologischer (Prozessbeherrschung), ökologischer (Stichworte Abfall und Energiebilanz) und ökonomischer Sicht (Werkstoffpreis und Zykluszeit) wichtig. Das folgende Beispiel eines Projektil-Implantates [4, 5] soll diese Aspekte verdeutlichen. Das Formteil (0,7 mm³ Volumen) wird mit einem 4-fach-Werkzeug und automatischer Angusstrennung durch einen Tunnelanguss aus verschiedenen bioresorbierbaren Resomer-Werkstoffen von Evonik, Essen, gefertigt. Der vierstellige Kilogrammpreis dieser Materialien zeigt direkt den wirtschaftlichen Aspekt. Im aktuellen Fall ist es gelungen, an der Formicaplast-Spritzgussmaschine ein Angussvolumen von nur 4 mm³ zu realisieren. Vergleichbare Verweilzeiten mit einer kleinen herkömmlichen Schneckenkolben-Spritzgießmaschine würden mit dem circa 100-fachen Schussvolumen erreicht. Trotz sehr hochwertigem Werkzeugbau ist für gratfreie Formteile und zum Beherrschen der Entformung eine steuerbare und reproduzierbare Prozesstechnologie essentiell. Dies wird durch das ausgewogene Anguss-Formteil-Verhältnis und durch den gut steuerbaren Einspritzvorgang mit dem verwendeten 2-mm-Spritzkolben erreicht.
Aus heutiger Sicht sind allerdings die technischen Voraussetzungen für eine Hochskalierung der Produktion derartiger Formteile nicht zufriedenstellend gegeben. Aus diesem Grund entwickelt die Forschungseinrichtung aktuell ein System, welches hohe Fachzahl, präzises Steuern des Einspritzvorgangs in den einzelnen Kavitäten und günstiges Verweilzeitverhalten bietet.
So unterscheiden sich mikrostrukturierte von Mikroformteilen
Mikrostrukturteile besitzen im Gegensatz zu Mikroformteilen größere äußere Abmessungen von mehreren Zentimetern und gleichzeitig Mikrostrukturen im Mikrometerbereich. Diese Mikrostrukturen können beispielsweise die Hydrophobie der Oberflächen oder Zellwachstum beeinflussen sowie mit sehr feinen Kanälen neue Möglichkeiten der Analytik bieten. Es ist zu beobachten, dass das Anfang der 2000er Jahre favorisierte Heißprägeverfahren vom Spritzgießprozess abgelöst wurde. Das Herstellen erfolgt mit Standardspritzgießmaschinen verbunden mit Sonderverfahren wie Spritzprägen sowie variothermer Prozessführung. Das KUZ nutzt für diese Aufgaben moderne Kleinmaschinen der Firmen Arburg, Loßburg, und Sumitomo (SHI) Demag, Schwaig, mit 15 und 14 mm Schneckendurchmesser. Neben dem Einsatz weitverbreiteter Maschinentechnik ergeben sich im Falle des Spritzgießens Designvorteile. Aus Lab-On-Chip-Anwendungen werden dadurch platzsparende dreidimensionale Formteile mit optimierter Handhabung. Die Funktionsintegration ermöglicht beispielsweise das direkte Abformen von Anschlüssen oder Behältern. Es werden also zusätzliche Verarbeitungsschritte eingespart.
Mikrostrukturierte Formteile können allerdings gleichzeitig Mikroformteile sein. So können beispielsweise Lab-On-Chip-Anwendungen oder optische Gitter aufgrund ihrer äußeren Abmessungen zu Mikroteilen schrumpfen. Ein weiteres wichtiges Feld ist die Funktionalisierung von Oberflächen von Implantaten, beispielsweise, um das Zellwachstum zu hemmen oder fördern. So arbeitet das Institut mit weiteren Partnern im Rahmen der Response-Vorhaben des BMBF an zellwachstumshemmenden Strukturen, welche, teilweise wirkstoffbeladen, aus LSR hergestellt werden.
Diese Sonderverfahren und -werkstoffe werden eingesetzt
Die Auswahl der Formmassen spielt in der Medizintechnik eine besondere Rolle. Angefangen bei der eingeschränkten Auswahl von Medical Grade Polymeren und dem wegen der herausragenden Biokompatibilität geschätzten PEEK, über thermisch empfindliche und sehr teure bioresorbierbare Materialien zu den Sonderwerkstoffen des Spritzgießens, wie sie in der LSR-Verarbeitung und Pulverspritzguss anzutreffen sind. Im Bereich des Mikrospritzgießens braucht jeder dieser Werkstoffe eine von dem Standard abweichende Verarbeitungsstrategie.
Darüber hinaus ist auch die Kombination all dieser Werkstoffe durch ein 2K-Verfahren gegeben [6, 7]. Gegenwärtige Entwicklungen kombinieren oft Sonderwerkstoffe und 2K-Prozess. Beispiele dafür sind LSR-Thermoplast-Kombinationen oder die integrierte Herstellung von verlorenen Kernen für komplexe Pulverspritzguss-Mikroteile [8].
Wie patientenspezifischer Mikrospritzguss möglich wird
Die individuelle Gestaltung von Implantaten ist eine naturgegebene Forderung und adressiert auch den Mikrospritzguss. Dieser ist als werkzeuggebundenes Urformverfahren für hohe Stückzahlen prädestiniert. So dringen die generativen Verfahren der Kunststofftechnik auch in den Mikrobereich vor. Auflösungsbedingt stößt das weit verbreitete FDM-Verfahren hier schnell an die eigenen Grenzen, sodass SLA (Stereolithografie) und DLP (Digital Light Processing) vielversprechender sind. In absehbarer Zeit wird allerdings das Werkstoffspektrum dieser Verfahren eingeschränkt bleiben. Somit können bioresorbierbare Werkstoffe, vor allem mit Wirkstoffbeladung, elastische Werkstoffe, wie LSR und TPE, Hochtemperaturwerkstoffe, wie PEEK, nicht zum Einsatz kommen.
Daher arbeitet die Forschungseinrichtung mit Partnern aus der Medizin und Medizintechnik im Rahmen der Response-Forschungsvorhaben an einem neuen, vielversprechenden Ansatz: die Kombination generativ hergestellter Werkzeugeinsätze mit dem Mikrospritzguss. Die spezifische Anatomie des Patienten wird durch eine MRT-Untersuchung ermittelt. Auf dieser Grundlage wird ein individuelles Implantat modelliert. Dieses Modell ist die Grundlage für die Werkzeugkontur, welche im DLP-Verfahren additiv hergestellt wird. Im anschließenden Spritzgießprozess steht die gesamte Werkstoffpalette spritzgießbarer Formmassen einschließlich Sonderwerkstoffe zur Verfügung.
Das Mikrospritzgießen steht trotz seiner mittlerweile 30-jährigen Geschichte nach wie vor vor einer stetigen Entwicklung, welche hauptsächlich auf der Anwendungsebene stattfindet. So stehen die neuen Entwicklungen des Mikrospritzgießens auch im Dienst der Patienten und generieren gleichzeitig Wachstumsimpulse für die Medizintechnik.
Literatur
[1] JÜTTNER, G.; BLOSS, P; DORMANN, B.; DECKER, Ch.; JACOB, S.; ZWICKER, Th.: Tailor made micro parts in small series and mass production. In: Tagungsband der 45. DGBMT Jahrestagung, 3-Länder-Tagung D-A-CH, (BMT2011), Freiburg i. Br., 2011, S. P89/Track I
[2] DORMANN, B; JÜTTNER, G. Klein, fleißig, kooperativ – Große Anforderungen für kleine Teile an Mikrospritzanlagen. Plastverarbeiter. 2007, Jg. 58, Nr. 2, S. 60–62.
[3] MÜLLER, W.; JÜTTNER, G.; JACOB, S.: Mikrolinsen unter der Lupe. Mikroproduktion. 2005, Jg. 3, Nr. 3, S. 44–46.
[4] JÜTTNER, G.: Verweilzeitoptimierte Verarbeitung von bioresorbierbaren Polymeren für die Medizintechnik. In: Kunststoff triff Medizintechnik, 2018, S. V1–7
[5] JÜTTNER, G.; LAUNICKE, K.-O.: Bioresorbierbares Projektil-Implantat. IVAM Inno –Medizintechnik 19 (2014) 59 (Nov.), S. 6
[6] DORMANN, B.; JÜTTNER, G.: Hochpräzise Miniaturen – 2KMikrospritzgießen. Kunststoffe 99 (2009) 2, S. 34–37
[7] JÜTTNER, G.; JACOB, St.: Immer kleiner, immer Präziser – Flexible Fertigung von Zweikomponententeilen durch Mikrospritzgießen. Plastverarbeiter 57 (2005)11, S. 62–64
[8] JÜTTNER, G.; WILDE, M.: 2K-Mikrospritzguss für komplexe Keramikformteile. Mikroproduktion 14 (2016)5, S. 32–37