Jeder Mensch ist einzigartig. Unsere Individualität macht uns aus und setzt sich zusammen aus Charakter, Aussehen, Gang, Sprache, Haut-, Haar- sowie Augenfarbe und viele weitere Merkmale mehr. Zweifelfrei kommt unserem Gesicht eine besondere Bedeutung zu, denn es dient zum Kommunizieren und ist unser Erkennungsmerkmal und letztendlich sogar der Spiegel unserer Seele. Doch unser Aussehen liegt nicht immer in unserer Hand. Viele Kinder werden mit Schädeldeformationen, Kiefer-Gaumen-Spalte, Unter- oder Überbiss geboren. Und auch im Erwachsenenalter sind wir nicht gefeit vor Unfällen oder Tumorerkrankungen, die unsere Kopf- oder Gesichtsform massiv ästhetisch beeinflussen. Neben der seelischen Belastung durch ein entstelltes Äußeres können diese Verformungen bei den Betroffenen beispielsweise die Sinnesfunktionen beeinträchtigen, funktionale Störungen oder auch psychosoziale Probleme verursachen. Die kraniomaxillofaziale Chirurgie widmet sich der ästhetischen und funktionalen Rekonstruktion des Gesichtes, bei der mit 3D-Druck hergestellte Implantate zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Ein Unternehmen der KLS Martin Group, das seit über 50 Jahren Implantate für die kraniomaxillofaziale Chirurgie herstellt, ist die Karl Leibinger Medizintechnik mit Sitz in Mühlheim an der Donau. Die Anfänge des in fünfter Generation geführten Unternehmens gehen auf das Jahr 1896 und das Herstellen von chirurgischen Instrumenten zurück. Heute werden in einer großen Bandbreite medizintechnische Lösungen – Implantate, chirurgische Instrumente, Sterilisationscontainer und Operationsleuchten – entwickelt und produziert.
Bereits in den 1970er Jahren erfolgte der Einstieg in die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG-Chirurgie). Zusammen mit Professor Maxime Champy aus Straßburg entwickelte KLS Martin das Miniplatten-Osteosynthesesystem, das heute weltweit als „Golden Standard“ gilt. Als Osteosynthese wird das operative Verbinden von Knochen bezeichnet, das täglich bei chirurgischen Eingriffen durchgeführt wird. Daher werden viele Systeme standardisiert in verschiedenen Größen angeboten und aufgrund der hohen Stückzahlen konventionell spritzgegossen oder mechanisch hergestellt. Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts beschäftigt sich das Unternehmen mit dem 3D-Druck von Implantaten, um diese individuell oder in kleinen Losgrößen zu fertigen. Im Jahr 2005 wurde mit der additiven Fertigung von Titan-Implantaten begonnen. Zwischenzeitlich ist ein ganzer Strauß an additiven Verfahren – SLS, SLM, SLA, FDM, LCM, AKF, DLP – im Einsatz, da jede dieser Techniken spezifische Vorteile für die herzustellenden Produkte und Strukturen bietet.
Langer Atem notwendig
Doch die Einführung neue Medizinprodukte am Markt ist ein langwieriger, zeitintensiver Prozess von 5 bis 7 Jahren. Denn das Produkt muss neben umfangreichen technischen Tests diverse klinische Studien durchlaufen bis es eingesetzt werden darf. Da es sich zum Beispiel bei einem Implantat nach den europäischen Richtlinien um ein Klasse III Produkt handelt, unterliegt es den intensivsten Prüfungen und Kontrollen, unter anderem der DIN ISO 13485, deren Fokus auf der Produktsicherheit und -wirksamkeit liegt. Die Norm enthält detaillierte Forderungen hinsichtlich Design, Herstellung und Inverkehrbringen von Medizinprodukten.
Ziel erreicht
Seit 2013 fertigt Karl Leibinger nun mit dem pulverbettbasierten Laserschmelzen (SLM) von Concept Laser, Lichtenfels, gefolgt von Anlagen der SLM Solution Group, Lübeck, individuelle Titanimplantate. Diese stellten in der MKG-Chirurgie einen großen Schritt dar, denn dadurch wurden selbst großflächige, geometrisch komplexe Rekonstruktionen möglich. Weiterhin ist das verwendete Material biokompatibel und die Teile verfügen über eine hohe Festigkeit. Zudem bietet das Lasercusing die Möglichkeit, bestimmte Partien mit unterschiedlichen Oberflächenrauheiten herzustellen, wodurch die Ränder schnell mit dem Knochen zusammenwachsen.
Der Medizintechnikhersteller produziert bereits Implantate aus Polymeren. Schädelplatten aus PEEK werden aktuell noch aus dem Vollen gefräst, sollen aber künftig auf einem Drucksystem von Kumovis, München, additiv gefertigt werden. Aus bioresorbierbaren Polymeren werden seit rund 20 Jahren Standardimplantate spritzgegossen. Dieses Fertigungsverfahren bietet jedoch für komplexe individuelle Bauteile keine Perspektive (Werkzeugkosten versus Stückzahl). „Unsere aktuellen Entwicklungen fokussieren sich deshalb auf das Generieren von additiv gefertigten Strukturen aus etablierten, resorbierbaren Polymeren wie Polylactid PLLA/CaCO3, PLLA/β-TCP und PLLA/HA“, erläutert Frank Reinauer, Leiter Innovation und Produktion Biomaterial. „Diese Technologie bietet uns die Möglichkeit, komplexe Teile herzustellen. Es können in das Bauteil Makrostrukturen eingebracht werden, die das bessere und schnellere Einwachsen der Knochen ermöglichen sollen.“ Hierbei handelt es sich um Teile des Skeletts, die beispielweise nach einer Tumorerkrankung ersetzt werden. Der Körper ist in der Lage das synthetische Material, je nach Indikation, innerhalb von wenigen Monaten in eigene Knochenmasse umzuwandeln. „Die Selbstheilungseffekte unseres Körpers sind exzellent“, so Reinauer. „Das Polylactid wird metabolisiert und über den Wasserhaushalt und die Atmung ausgeschieden.“
Operationsumfang reduzieren
Müssen durch einen Tumor beispielsweise Bereiche des Unterkiefers neu aufgebaut werden, so erfolgt dies derzeit mit dem Knochen des Wadenbeins. Dies bedeutet, dass der Patient eine Gesichtsoperation und zeitgleich eine Operation des Unterschenkels benötigt, bei der das Wadenbein ersatzlos entnommen wird. Ziel der aktuellen Implantatentwicklung ist es, diese benötigten Ersatzteile zu drucken und dadurch eine aufwendige Rekonstruktion durch patienteneigenes Knochenmaterial einzusparen. Doch bis dies soweit ist, vereinfacht die additive Fertigung bereits jetzt die Operation. Hierzu ist im Vorfeld das intensive Abstimmen des Chirurgen mit dem Medizintechnikhersteller erforderlich.
Um mit der patientenspezifischen Planung beginnen zu können, werden im ersten Schritt die Patientendaten vom behandelnden Arzt in das IPS Gate (Individual Patient Solutions) verschlüsselt und gemäß DSGVO (Datenschutzgrundverordnung) hochgeladen. Bei dem IPS Gate handelt es sich um eine KLS-spezifische Plattform. Diese wurde 2016 eingeführt und leitet die Chirurgen und Anwender durch Anfrageprozess, Planung, Korrektur bis hin zum Fertigstellen des Produktes. Anhand der zur Verfügung gestellten CT- und MRT-Daten wird geklärt, wie sich die anatomische Situation darstellt und welchen Ansatz der Chirurg verfolgen will. „Diese 3D-Daten bilden die Basis für die Zusammenarbeit von Chirurg und IPS-Entwickler. Zwischenzeitlich sind wir in der Lage, daraus technisch verwertbare 3D-Modelle zu erstellen, die die Basis für die Rekonstruktion darstellen“, führt Frank Reinauer aus. In intensivem Austausch wird die postoperative Situation definiert, ebenso die Osteotomielinien (Schnittlinien), in diesem Beispiel am Kieferknochen und am Wadenbein. Weiterhin wird das Design für die Implantate, die später die Fragmente halten und verbinden, diskutiert und das Material festgelegt.
Fertigung bedarfsgerecht
Für das passgenaue Durchtrennen des Wadenbeins in Segmente wird aus Polyamid durch Lasersintern auf einem System von EOS, Krailling, eine Markierungsschablone gefertigt. Diese wird für die Entnahme regelrecht auf den Knochen „geclipst“. Sind die Segmente aus dem Wadenbein herausgelöst, so werden sie im Kieferbereich eingesetzt. Fixiert werden diese mit einem Implantat, das im SLS-Verfahren aus einer Titanlegierung anhand der Patientendaten hergestellt wurde. „Von der Produktionsfreigabe durch den Operateur bis zur Auslieferung des Hybrid-Setups benötigen wir lediglich fünf Tage“, erläutert Frank Reinauer aus.
In dem patientenspezifischen Set enthalten sind neben dem Titanimplantat, Bohr- und Sägeschablone. Ebenso das anatomische Modell, das die knöcherne Situation, die Passgenauigkeit der spezifischen Markierlehre sowie der Implantate visualisiert. Weiterhin erhält der Chirurg eine genaue Beschreibung der während der Operation durchzuführenden Schritte und anzubringenden Schrauben.
Die Anzahl der Projekte, die von den mehr als 80 IPS-Entwicklern der Gruppe pro Jahr bearbeitet werden, ist zwischenzeitlich beachtlich. „In diesem Jahr liegt die Zahl durch die Corona-Pandemie jedoch deutlich niedriger, da zahlreiche geplante Operationen verschoben wurden und immer noch werden“, berichtet Frank Reinauer.
Enger Rahmen
Die Druckparameter für diese Medizinprodukte werden bereits bei der Qualifizierung der Anlage festgelegt. „Wir müssen sicherstellen, dass die Teile immer die gleich gute Performance hinsichtlich Mechanik, Dichte, Biokompatibilität besitzen“, so Adem Aksu, Forschung und Entwicklung Biomaterialien. „Alle im Betrieb befindlichen Anlagen wurden von uns vor der Inbetriebnahme für den Betrieb im Reinraum modifiziert. Die kontrollierte Umgebung ist wichtig für das Herstellen dieser Medizinprodukte.“
Bioresorbierbare Implantate
Für Implantate, die aus qualifizierten Granulaten oder FDA-gelisteten Materialien additiv gefertigt werden sollen, steht im Reinraum der Klasse 7 ein Freeformer (AKF) von Arburg, Loßburg, zur Verfügung. „Dieses System ergänzt seit etwa drei Jahren unseren Maschinenpark. Es ermöglicht uns zusätzliche Freiheitsgrade hinsichtlich Geometrie und Materialeinsatz“, beschreibt Adem Aksu. Bioresorbiere Implantate bieten gleich mehrere Vorteile, sowohl für den Patienten als auch für den Operateur. Zum einen verkürzt sich die Operationszeit, da kein Knochen entnommen und für die Gesichtspartie rekonstruiert werden muss. Und zum anderen wird der Patient nur an einer Körperregion operiert, hat weniger Schmerzen und die Aufenthaltszeit in der Klinik ist deutlich verkürzt.
Aktiv arbeitet der Medizintechnikhersteller mit sieben verschiedenen 3D-Drucktechnologien, mit denen in mehreren Forschungsprojekten neuen Materialien und Compounds für Implantate entwickelt oder vorhandene Materialien für die additive Fertigung optimiert werden. Die Werkstoffe enthalten teilweise Calciumphosphat und Hydroxylhapatit, Grundbestandteile eines Knochens, die dem Körper als Brücke zum Aufbau des neuen Knochens angeboten werden. Das Einbinden des Implantates soll auch mit dem Elektrospinningverfahren verbessert werden. Bei dieser Technik wird ein hauchdünner Polymerfaden beispielsweise aus Poly-DL-lactide, PLA oder PLA-PGA auf die Implantatoberfläche gesponnen. So entsteht ein Netz, an dem sich die Zellen gerne anlagern.
Enge Partnerschaften notwendig
Die Motivation für chirurgische Implantate kommt und kam schon immer von beiden Seiten – vom Hersteller und vom Anwender. Durch die zahlreichen Forschungsprojekte wurde der heutige Stand zum Umsetzen individueller Strukturen hinsichtlich Freiformgestaltung, Porosität und Dichte von Materialen, die der Chirurg bereits kennt, weil sie bereits etabliert sind, erreicht. „Mit Materialneuentwicklungen gehen wir auf die Operateure zu, stellen dessen Eigenschaften vor und erfragen mögliche Einsatzgebiete“, führt Frank Reinauer aus und ergänzt: „Anschließend gehen wir in die Entwicklung anhand unserer Systeme und Erfahrungen. Im Fokus steht für uns immer die Lebensqualität des Patienten. Die Möglichkeiten auf diesem Gebiet sind noch lange nicht ausgeschöpft.“ Der Medizintechnikhersteller sieht die Zukunft der patientenspezifischen Implantatchirurgie in der sinnvollen Kombination von metallischen und resorbierbaren polymeren Strukturen. Die additive Fertigung ist in jedem Fall eine zweckmäßige Erweiterung der bestehenden Produktionsmöglichkeiten wie Spritzgießen und mechanisches Bearbeiten. Das Neue wird das Bewährte jedoch nicht ersetzen.