Ohne Rücksicht auf Verluste
Um einem kursierenden Gerücht entgegenzutreten: Medizinprodukte sind vom PFAS- Beschränkungsvorschlag nicht generell ausgenommen. Ausgenommen sind „medicinal products“, also Human- und Veterinär-Arzneimittel, in denen PFAS als aktive Substanz vorkommen.
Würde der Entwurf Gültigkeit erlangen, würden wir in der medizinischen Versorgung in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurückversetzt. Kontaktlinsen und Kunststoffbrillengläser gäbe es nicht mehr mit der heute bekannten Funktionalität. Diagnosemöglichkeiten von Ultraschall, CT oder Kernspin wären undenkbar. Harnableitende Katheter würden leichter mit der Harnröhre verkleben, Herzkatheter nicht reibungsarm und nur mit dem unerwünschtem Haft-Gleiteffekt bis in die Koronargefäße gelangen. Vergessen wir auch Implantate wie Herzschrittmacher oder die Möglichkeiten der Dialyse. Im Operationssaal gäbe es weder moderne Narkose- noch Beatmungsgeräte, Operationen würden nicht mehr minimalinvasiv oder endoskopisch möglich sein: Vergessen Sie Ihre Blasenspiegelung oder die Darmkrebsvorsorge.
Heute gibt es etwa 400.000 bis 500.000 verschiedene Medizinprodukte. Schätzungen gehen dahin, dass etwa 150.000 davon PFAS-Materialien aufgrund ihrer Funktion benötigen. 2021 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamts etwa 60 Mio. Operationen und Behandlungsmaßnahmen in deutschen Krankenhäusern durchgeführt. Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa ein Drittel davon den Einsatz von PFAS-relevanten Produkten umfasst. Das sind 20 Mio. Fälle, hinter denen Einzelschicksale stehen.
Minimalinvasive Verfahren im Speziellen vermeiden große (Bauch-)Schnitte und haben die postoperative Verweildauer im Krankenhaus maßgeblich verkürzt. Ein größer werdender Teil der Eingriffe kann ambulant oder teilstationär durchgeführt werden, was der Solidargemeinschaft Kosten spart. All das wäre mit der weitreichenden PFAS-Beschränkung vorbei. In der Medizintechnik werden vor allem Fluorpolymere und -elastomere eingesetzt, meist „Polymers of Low Concern“. Für uns sind das Hochleistungswerkstoffe. Sämtliche Materialien, die in Körperkontakt kommen, müssen die Biokompatibilität, sozusagen ihre Ungiftigkeit nach DIN EN ISO 10993 nachweisen.
Was wir brauchen, sind generelle Ausnahmen für diese PFAS-Untergruppe, weil wir auch in funktionierenden Lieferketten denken müssen. Medizintechnikunternehmen produzieren in der Regel keine PFAS, wir verwenden entweder Halbzeuge, die ihrerseits keine Medizinprodukte sind, wir funktionalisieren Oberflächen mit Dienstleistern oder wir verwenden Elektronik. Diese Technologiepartner sind in der Regel keine Medizinproduktehersteller, auch Zwischenhändler nicht. Ferner brauchen wir PFAS in unseren Produktionsanlagen, hier ist das Ende der Fahnenstange noch gar nicht abzusehen.
Was wir brauchen, sind gut kontrollierte Produktions-, Recycling- und Entsorgungsprozesse. Letztere regelt das Kreislaufwirtschaftsgesetz auch für medizinische Einrichtungen.
Was uns droht, ist ein Rückfall ins letzte Jahrhundert aus Vorsicht, man könne ja nicht wissen, welche heute unbekannten Prozesse diese hochinerten Materialien eines Tages doch zu giftigen Endprodukten abbauen. Wo bleibt eine gesellschaftliche, eine ethische Abwägung? Werden der Öffentlichkeit die negativen Auswirkungen eines Verbots fair erläutert? Wo ist ein kompetent-kritischer Journalismus, der dieses Thema angemessen darstellt?
Wurde die Vorgabe der EU-Kommission, PFAS schrittweise aus dem Markt zu nehmen („phase- out“), essenzielle Anwendungen aber explizit auszunehmen, angemessen umgesetzt? Nicht nur mir kommen da Zweifel. Ich erinnere mich da an ein Gespräch mit einer beteiligten Behörde.
Man könne gar nicht die vielen Anwendungen berücksichtigen, Ziel des Entwurfs sei es gewesen, einen möglichst weitgehenden Beschränkungsvorschlag vorzulegen. Das haben wir wahrlich bekommen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
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