Die Digitalisierung durchdringt inzwischen fast sämtliche Lebensbereiche unserer Gesellschaft. Egal ob Einkauf mit dem Smartphone beim Internethändler des Vertrauens, Online-Ticketbuchung oder das jüngste Beispiel Homeoffice. Dennoch ist Deutschlands Ruf in Sachen Digitalisierung nicht unbedingt der beste, glaubt man beispielsweise einer Studie vom Eco Verband der Internetwirtschaft vom April 2022. Demnach sind aktuell 68 % der Bevölkerung in Deutschland in keinem digitalpolitischen Bereich zufrieden. Das trifft insbesondere bei den Themen digitale Bildung, Cybersicherheit und digitale Verwaltung zu.
Doch zumindest auf die deutsche Industrie trifft das nicht zu. Hier zeigt sich ein anderes Bild, mag man einer aktuellen Bitkom-Studie glauben. Demnach nutzen 65 % der Unternehmen Industrie-4.0-Anwendungen, 25 % würden immerhin einen Einsatz planen, insgesamt also 90 %. Vor Corona lag dieser Wert noch bei 74 %. Bitkom Research befragte in der Studie „Industrie 4.0 – so digital sind Deutschlands Fabriken“ von Anfang März bis Mitte April 2022 gut 550 Industrie-Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigen. Gleichzeitig waren 81 % der Befragten der Meinung, dass Digitalisierung und Industrie 4.0 zu einer nachhaltigeren Produktion beitragen.
Das Einsparpotenzial bei beschleunigter Digitalisierung im Bereich der Fertigung bis ins Jahr 2030 wird gar mit 64 Metatonnen CO2 beziffert. 91 % der Unternehmen halten Industrie 4.0 gar für unverzichtbar, insbesondere um international wettbewerbsfähig zu sein. Doch wie sieht es speziell in der Kunststoffindustrie aus? Wie weit ist hier die Digitalisierung gediehen und wo stößt deren Umsetzung an Grenzen? Die Redaktion des PLASTVERARBEITER hat sich hierzu umgehört.
Maschinen als Teil einer digitalisierten Fabrik
„Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung im eigenen Unternehmen einen Schub verliehen. Wir können heute behaupten, dass wir das papierlose Büro haben und mobiles Arbeiten etabliert haben“, verrät Dr. Stefan Sommer, Prokurist bei Günther Heisskanaltechnik, Frankenberg (Eder). „Im Bereich der Produktion konnten wir einige digitale Themen im Bereich der Warenwirtschaft und der Automatisierung umsetzen.“ Bei LBW-Steinl, Altdorf/Landshut, beispielsweise werden interne Prozesse konsequent digitalisiert. Entscheidender sei für das Unternehmen aber die Digitalisierung des eigenen Maschinenportfolios, wie Peter Radosai, Vertriebsleiter für Europa, verrät. „Hier sehen wir zukünftig auf verschiedenen Ebenen weitere Differenzierungsmöglichkeiten zum Wettbewerb. Unsere Maschinen werden Teil einer digitalisierten Fabrik, von der Bauteilauslegung, über die Fertigung bis hin zum Gebrauch.“ Außer Acht gelassen werden hier aber auch Bestandsmaschinen nicht. „Hierfür bieten wir mittlerweile mit der LWB-Databox eine kostengünstige Möglichkeit an“, so Radosai.
Bei der außeruniversitären Forschungseinrichtung für innovative Werkstoff- und Verfahrensentwicklung im Themenfeld Leichtbau, die Neue Materialien Bayreuth, wurde in den vergangenen Jahren gezielt Know-how zur Digitalisierung aufgebaut und entsprechende Erfahrungen gesammelt, wie der Geschäftsführer, Prof. Dr.-Ing. Holger Ruckdäschel, berichtet. „Fachkräfte aus relevanten Disziplinen – Ingenieure, Naturwissenschaftler, Informatiker, Datenwissenschaftler – bringen Impulse ihres jeweiligen Wissensgebiets ein. Durch eine solche Vernetzung von Kompetenzen entstehen Innovationen.“ Dies sei wichtig, so Ruckdäschel, um „im Auge zu behalten, welches Problem konkret adressiert wird und welcher Aufwand für die digitale Lösung notwendig ist.“
Nach Meinung von Jürgen Schwarz, Leiter Geschäftsentwicklung bei SAR Elektronic, ist die Digitalisierung aus der Automation nicht mehr wegzudenken. „Dieses Feld nimmt einen immer größer werdenden Anteil an den Gesamtinvestitionen unserer Kunden ein.“ Basis für eine vernetzte Produktion und fundierte Entscheidungen sei hier die Transparenz. „Durch die angespannte finanzielle Lage vieler mittelständischer Kunststofffertiger bestehe jedoch oft wenig Spielraum für diese Investitionen“, so Schwarz.
Vor welchen Herausforderungen insbesondere der Mittelstand steht
Auch beim Kunststoff-Zentrum SKZ in Würzburg wurde in der jüngeren Vergangenheit erheblich in den Digitalisierungsgrad investiert. „Wo früher händisch geführte Prozessprotokolle anzutreffen waren, werden heute zeitaufgelöste Prozessdaten ausgewertet“, erklärt Institutsleiter Prof. Dr.-Ing. Martin Bastian. „Hürden sind noch, dass zum Beispiel standardisierte Schnittstellen unterschiedlich umgesetzt werden oder relevante Daten nur über Umwege erfasst werden können.“ Dies aufzulösen, koste viel Zeit und auch Geld. Ein Umstand mit dem insbesondere der Mittelstand zu kämpfen habe. Werkzeuge und Methoden würden sich kontinuierlich ändern, so Bastian und es sei „eine Herausforderung, den Überblick über die vielen Informationen zu behalten.“ Das Institut kooperiert zugleich mit Unternehmen aus der Kunststoffindustrie und digitalen Technologieanbietern. „In Forschungsprojekten werden gezielt ökonomisch und ökologisch tragfähige Lösungen entwickelt“, verrät Bastian. Beispielhaft sei hier das Projekt „Cyclops“ genannt. Hier werden Ansätze entwickelt, um mit Künstlicher Intelligenz (KI) den Rezyklateinsatz zu erhöhen.
Wie 5G-Technologie Produktionsprozesse smarter gestaltet
Welche Möglichkeiten die Digitalisierung bietet, das zeigt auch der Spritzgießmaschinenhersteller Arburg, Loßburg, der das Thema nach eigenen Aussagen massiv im eigenen Unternehmen und bei Produkten vorantreibt. Gerhard Böhm, Geschäftsführer Vertrieb und Service, Arburg, konkretisiert dies wie folgt: „Ein aktuelles schönes Beispiel ist, dass wir Pilotkunde der Telekom sind und in unserer Zentrale in Loßburg ein 5G-Campus-Netz installiert haben. Damit haben wir die Möglichkeit, unsere Fertigungsprozesse effizienter und noch smarter miteinander zu vernetzen.“ Er ergänzt: „Welche Vorteile die 5G-Technologie unseren Kunden bietet, haben wir im Rahmen der Technologie-Tage anhand konkreter Anwendungen aufgezeigt: Selbst ‚kritischer‘ Datenverkehr ist kabellos, flexibel, schnell, zuverlässig und vor allem sicher möglich.“ Alles wird digitaler und vernetzter, und insbesondere die Spritzgießtechnologie profitiert davon.
Klaus Geimer, stellvertretender Geschäftsführer, Dr. Boy: „Durch eine verbesserte Konnektivität können Spritzgießmaschinen mehr und mehr in die digitale Welt eingebunden werden. Maschinen sind über einen WLAN-USB-Stick rund um die Uhr online und damit auch für den Servicesupport erreichbar. Ebenso lassen sich Peripheriegeräte wesentlich einfacher digital integrieren und bedienen.“
Weitestgehend digitalisiert und auch automatisiert sind ebenfalls die internen Produktions- und Geschäftsprozesse bei Wittmann. „Die Grenzen der Umsetzung eines internen Digitalisierungsprojektes bestimmen heutzutage die Verfügbarkeit von geeigneten Entwicklern, Projektingenieuren und Programmierern, sowohl in der eigenen Firma als auch bei externen Dienstleistungsfirmen“, erklärt Michael Wittmann, Geschäftsführer der Wittmann Gruppe. Er spricht zugleich den vorherrschenden Fachkräftemangel sowie den volatilen Arbeitsmarkt an. „Manche Sonderprojekte, die letztendlich einen hohen Automatisierungsgrad versprechen, aber eine sehr arbeitsintensive und spezialisierte Realisierung verlangen, müssten deshalb neu bewertet und möglicherweise in einer abgespeckten Form realisiert werden“, so Wittmann.
Dass die Digitalisierung sowie die prozesskettenübergreifende Zurverfügungstellung von Informationen immer wichtiger wird, davon ist auch Manuel Sieben, Geschäftsführer des auf den Bereich des Kunststoffschweißens spezialisierten Unternehmens Polymerge, Geretsried, überzeugt. „Vor allem im Zusammenhang mit dem Einsatz von Rezyklat ist das Wissen um Materialeigenschaften und ggf. um Verarbeitungsparameter der Vorprozesse sehr hilfreich.“ Das Unternehmen wirkt beispielsweise am Verbundprojekt „Akkord“ an der Entwicklung einer technologischen Plattform mit, die einen solchen Datenaustausch ermöglicht.
Wie gewonnene Daten Prozesse optimieren
Paul Edmondson, Geschäftsführer bei Maguire für Europa und EMEA zufolge, ist eine transparente, effiziente Produktion heute, in Verbindung mit der Integration von Anlagenmanagementsystemen, wichtiger denn je. „In Verbindung mit dem Streben nach Kreislaufwirtschaft und Recycling ist die Digitalisierung von entscheidender Bedeutung. Das Erfassen und Analysieren von Daten ist hierbei ein wichtiges Werkzeug, sie zu entsprechend schnell und unkompliziert handzuhaben besonders wichtig.“ Beim Hersteller von Peripheriegeräten sind die Systeme selbst vernetzbar und liefern Daten zur Optimierung des Produktionsprozesses, wie der Geschäftsführer erklärt: „Bei unserer Ultravakuum-Trocknungstechnologie wird jede Phase des Prozesses durch digitale Temperaturmessgeräte, Vakuumsonden, digitale Sensoren und auch Wägezellen digital in Echtzeit überwacht. Wenn ein Schlüsselparameter nicht zutrifft, stoppt das System automatisch, alarmiert den Bediener und protokolliert die Prozessdaten.“
Wie Maschinen auch virtuell in Betrieb genommen werden können
Ein wichtiges Feld, das die Digitalisierung eröffnet, ist auch die Inbetriebnahme oder die Fernwartung von Maschinen. Hier ist der Spritzgießmaschinenbauer Desma, Fridingen an der Donau, bereits aktiv. „In den letzten Jahren werden viele Maschinenabnahmen voll digital und virtuell durchgeführt, was Zeit und CO² einspart. Dies sind aus unserer Sicht sehr wichtige flankierende Werkzeuge für eine gute Kundenkommunikation, können aber reale Begegnungen und Kundengespräche nicht vollständig ersetzen. Um jedoch auch Klimaziele nachweislich erfüllen zu können, wird eine weitere Vernetzung von Produktionsanlagen unabdingbar“, berichtet Harald Schmid, General Sales Manager der Desma Gruppe.
Krauss Maffei etwa hat im Jahr 2018 mit der Gründung der Geschäftseinheit Digital & Service Solutions (DSS) auf die starke Fokussierung des Themenfelds Digitalisierung am Markt reagiert. Sie treibt nicht nur die Digitalisierung im Unternehmen voran, wie Dr. Michael Ruf, CEO der Krauss Maffei Group schildert, sondern auch digitale Geschäftsmodelle und Lösungen entwickelt. „Schon heute setzen wir in unserer ‚Remote Support‘ genannten Familie von Service-Produkten Technologien wie Augmented Reality ein, um unsere Kunden schnell und unkompliziert bei der Wartung unserer Systeme zu unterstützen.“ Mit der Videokommunikation werden Maschinen-Instandhalter und Experten aus dem eigenen Unternehmen digital verbunden. „Der gesamte Vorgang wird mit kommentierten Bildern und Berichten detailliert und ohne zusätzlichen Aufwand dokumentiert“, erklärt Dr. Ruf. „Oft ist sogar die Instandsetzung der Maschine aus der Ferne möglich.“ Mit „Social Production“ bietet der Maschinenbauer außerdem die Möglichkeit, Maschinen in die digitale Kommunikation einzubinden, „in der die Maschinen überwacht, aber auch selbstständig zum Beispiel Warnmeldungen senden können, um rechtzeitig Maßnahmen ergreifen zu können“, wie der CEO von Krauss Maffei ergänzt.
Simulation als digitales Werkzeug
Fernab dieser Möglichkeiten bringt die Digitalisierung aber auch nützliche Werkzeuge hervor. Die Simulation ist eines davon und wird in verschiedensten industriellen Bereichen eingesetzt. So auch im Werkzeug und Formenbau. „Aktuell nutzen wir digitale Tools bereits in einer Vielzahl von Bereichen, von der vollautomatisierten thermischen Simulation unserer Heißkanalverteiler im CAD-Bereich bis hin zu miteinander vernetzten ERP und PLM-Systemen mit digitalen Arbeitsplätzen in der Fertigung“, verrät Dr. Stefan Eimeke, Geschäftsführer, Ewikon Heißkanalsysteme.
Beim Temperiergerätehersteller HB-Therm, St. Gallen in der Schweiz, hat man die Produktion bereits in Richtung „Zukunft Digitalisierung“ vorangebracht, wie es heißt. „Wir haben bereits vor vier Jahren mit der Einführung unseres ERP Systems einen Digitalisierungsschub begonnen, der aktuell durch weitere Schritte im Zusammenhang mit unserem Neubau weiter vorangetrieben wird“, sagt der CEO Reto Zürcher. „Neben der eigenen Digitalisierung treiben wir aber auch die Digitalisierung unserer Produkte, sozusagen für alle Endkunden, voran: Passende Beispiele dafür sind die Einführung des ‚Digitalen Zwillings‘, der Wissensdatenbank für unsere Kunden sowie unser neues Ticket-System mit digitaler Lösungsunterstützung für all unsere Vertretungen weltweit.“
„Eine Digitalisierung des Digitalisierungswillen darf es nicht geben“
Die Digitalisierung hat die technologische Landschaft enorm beeinflusst und verändert. Sie eröffnet Potenziale, die einst schier undenkbar erschienen. Werden dennoch irgendwo natürliche Grenzen erreicht, die dieses Themenspektrum limitieren? „Grenzen bestehen immer dort, wo die Akzeptanz bei Mitarbeitenden fehlt. Ohne ein gemeinsames, abgestimmtes Vorgehen unter Einbeziehung der Mitarbeitenden ist ein Digitalisierungsprojekt zum Scheitern verurteilt“, erklärt Dr. Stefan Sommer. Denn „eine Digitalisierung des Digitalisierungswillen darf es nicht geben“, mahnt dieser zugleich. Prof. Dr.-Ing. Holger Ruckdäschel sieht die Grenzen dann erreicht, wenn die mit der Digitalisierung verbundenen Kosten deren Nutzen überschreiten. „Die Digitalisierung hat enormes Potenzial, darf aber kein Selbstzweck sein.“
Für Gerhard Böhm ist das Interesse am Thema Digitalisierung grundsätzlich hoch, ihm zufolge gebe es aber noch viel ungenutztes Potenzial. „Wir erkennen zum Beispiel, dass manche Mehrwerte nicht gleich erkannt werden. Oberstes Ziel der Digitalisierung ist immer, dass die Kunden dadurch die Produktionseffizienz ihrer Unternehmen steigern können.“