Schaubild: Vorgehen zur simulationsgestützten Vorhaltung der Werkzeugkavität.

Bild 1: Vorgehen zur simulationsgestützten Vorhaltung der Werkzeugkavität. (Bild: IKV)

Die Maßhaltigkeit von Spritzgießbauteilen zählt zu einem der wichtigsten und zugleich herausforderndsten Qualitätsmerkmale. Das Schwindungs- und Verzugsverhalten der Bauteile, das sich individuell aus Material, Geometrie und Prozesspunkt ergibt, sind maßgeblich für diese Herausforderung verantwortlich. Bereits beim Auslegen des Werkzeugs müssen in der Konstruktionsphase Schwindung und Verzug berücksichtigt werden. Mithilfe von Simulationen kann der Verzug abgebildet und durch Vorhaltung/Bombierung die Kavitätsgeometrie so optimiert werden, dass die gewünschte Formteilgeometrie erreicht wird. Noch heute ist die physische Nachbearbeitung und die darauffolgende mehrfache Abmusterung des Werkzeugs Stand der Technik, um die Maßhaltigkeit zu optimieren. Für geometrisch hochpräzise Bauteile werden trotz Simulation im Durchschnitt fünf Iterationsschleifen zur Werkzeugnachbearbeitung benötigt [1]. Im Rahmen des KMU-innovativ-Verbundprojekts „Rheosim“ wurde eine Methodik zur realitätsnahen Optimierung von Spritzgießkavitäten mittels iterativer Verzugssimulation entwickelt. Ziel ist das Vermeiden von physischen Iterationsschleifen durch eine Anwendung von Simulationstechniken, wodurch Zeit, Kosten und Personalaufwände verringert werden. Gleichzeitig soll eine Steigerung der Bauteilmaßhaltigkeit auf numerischer Basis erreicht werden. Der Erfolg der Methodik zur simulationsbasierten Vorhaltung wird durch einen Vergleich des simulierten Bauteilverzugs mit den Zeichnungsmaßen gezeigt.

So wird beim iterativen Optimieren von Spritzgießkavitäten vorgegangen

Um physische Iterationen zu vermeiden, muss der praktische Abmusterungs- und Nachbearbeitungsprozess virtuell abgebildet werden. Hierzu wird ein Vorgehen vorgestellt, welches den physischen Abmusterungsprozess ersetzt. Die Grundannahme des Vorgehens ist, dass durch eine Überlagerung von Schwindungsvorhaltung und Verzugsbombierung (Kompensation) die gewünschten Zeichnungsmaße erreicht werden können. Das Vorgehen beinhaltet die drei Schritte: Prozesssimulation, digitale Form- und Lageprüfung sowie eine automatisierte geometrische Kompensation (Bild 1). Zunächst wird die prozessbedingte Bauteildeformation der unveränderten Bauteilgeometrie berechnet. Die Simulationsdaten werden anschließend exportiert und in eine am IKV entwickelte webbasierte Schnittstelle „Imould“ importiert [2]. In Imould wird anschließend basierend auf den Simulationsergebnissen und dem gewünschten Zeichnungsmaß die Abweichung zwischen Simulation und Sollmaß ermittelt. Dies erfolgt mittels einer eigens entwickelten Python-Routine, welche konventionelle STL-Dateien der Geometrien verwendet. Das Ermitteln der Abweichung erfolgt hierbei für jedes Diskretisierungselement einer STL-Datei und wird über alle Elemente gemittelt. Auf Basis des Vergleichs verschiebt die entwickelte Routine die Lage der Oberflächenelemente (Bild 1, Schritt 3). Analog zum Abweichungsvergleich wird die Kavitätsanpassung für jedes Diskretisierungselement einzeln vorgenommen. Anschließend wird die prozessbedingte Deformation der optimierten Geometrie erneut berechnet und zum Sollmaß verglichen (Bild 1, Schritte 1 und 2). Die erneute Durchführung der Schritte kann so lange erfolgen, bis die Abweichung zwischen Sollmaß und simulierter Deformation kleiner als die selbst vorgegebenen Toleranzen sind. Mithilfe weniger Iterationen wird durch diese Vorgehensweise ein Verringern der Abweichung zur Sollgeometrie um mehrere Größenordnungen erreicht. Ein wichtiger Aspekt ist zudem die Sicherstellung, dass das verwendete Simulationsmodell die Realität hinreichend genau abbilden kann, da die Abweichung zwischen Realität und Simulation direkt die Optimierungsgenauigkeit beeinflusst. In vorangegangenen Arbeiten wurde deshalb die Präzision der Schwindungs- und Verzugsvorhersage kommerzieller Simulationstools untersucht. Es wurde festgestellt, dass je nach Materialtyp und Aktualität der Materialdatenbank große Abweichungen verglichen zur realen Bauteildeformation vorherrschen können. Die Ursache hierfür können beispielsweise vereinfachte Materialmodelle wie ein pvT-Modell ohne Kühlratenabhängigkeit sein [3]. Insbesondere sind jedoch auch die einzelnen Parameter der Materialmodelle verantwortlich für die Simulationsgüte. Über die Anpassung von Parametern der Materialmodelle in der Materialkarte konnte beispielsweise die Genauigkeit der Deformationsberechnung um bis zu 70 % verbessert werden [4].

Vergleich der Iterationsschritte in der Simulation

Für die nachfolgenden Untersuchungen wurde ein Gehäuse für einen Raspberry Pi („Pi-Case“ 93 x 65 x 20 mm3) ausgewählt. Als Material wurde ein POM (Hostaform C9021, Celanese Corporation, Texas, Vereinigte Staaten) verwendet. In den Experimenten kann mittels des in Bild 1 gezeigten Arbeitsablaufs in der Simulation die Abweichung zwischen Sollmaß und deformiertem Bauteil deutlich reduziert werden. Für die ursprüngliche Kavität ohne Vorhaltung resultiert eine durchschnittliche Abweichung zum Sollmaß von maximal 1,60 mm (Bild 2). Bereits nach dem ersten Iterationsschritt reduziert sich dieser Fehler auf maximal 0,03 mm. Nach insgesamt sieben Iterationen ist der durchschnittliche Fehler mit 0,0016 mm im einstelligen µm-Bereich und damit vernachlässigbar klein (Bild 2). Ein geeignetes Kavitätsdesign ist daher schon ab der zweiten oder dritten Iteration je nach Formteil verfügbar. Gemäß der Simulation ist über die kompensierte Geometrie eine sehr gute Maßhaltigkeit zu erwarten. Um die Übertragbarkeit des Ansatzes auf anderweitige Geometrien zu untersuchen, wurde die Methodik auf eine zweite Geometrie (140 x 80 x 20 mm3) angewendet. Es ist erkennbar, dass auch für die zweite Geometrie mit dem Material POM die Deformation der Bauteile mittels weniger Iterationen beherrscht werden kann. Für die unkompensierte Geometrie herrscht eine durchschnittliche Abweichung von 1,4 mm und maximal 2,7 mm. Bereits nach dem ersten Optimierungsschritt ist die durchschnittliche Abweichung auf rund 0,06 mm verringert. Das Betrachten der maximalen Abweichung zeigt jedoch, dass es Bereiche gibt wie die Seitenwand, die dennoch eine maximale Abweichung von 0,36 mm aufweisen. Eine einmalige Kompensation führt daher nicht zwangsläufig zu einem global optimalen Ergebnis. Nach einer weiteren Iteration sind auch die übrigen kritischen Bereiche korrekt kompensiert, sodass sich die durchschnittliche Abweichung auf 0,01 mm reduziert. Die angewandten Methoden sind im Grunde unabhängig von der Spritzgießsimulationssoftware, aber stark abhängig von der Materialkarte und den hinterlegten Materialdaten. Die Genauigkeit des Materialdatensatzes ist dabei direkt verantwortlich für die Genauigkeit der finalen Kavitätsoptimierung.

Grafik mit grünen Balken und drei Simulationszeichnungen: Abweichung der simulierten Deformation zum CAD-Sollmaß, für eine unveränderte Kavität (links), 1. Kompensation (Mitte) und 7. Kompensation (rechts).
Bild 2: Abweichung der simulierten Deformation zum CAD-Sollmaß, für eine unveränderte Kavität (links), 1. Kompensation (Mitte) und 7. Kompensation (rechts). (Bild: IKV)

Das sind die nächsten Schritte

Zukünftig soll die Vorgehensweise zur Kompensation automatisiert werden, sodass mit wenigen Arbeitsschritten optimale Spritzgießwerkzeuge ausgelegt werden können. Dabei soll insbesondere ein Fokus auf die Übertragbarkeit bei unterschiedlichen Geometrien gesetzt werden. Weiterhin sollen mit der Imould-Routine korrekte Entformungsschrägen gesetzt sowie Hinterschnitte, die durch das STL-Dateiformat verursacht werden, vermieden werden. In einem letzten Schritt wurde die simulationsbasierte Auslegung in ein reales Werkzeug überführt, um die Übertragbarkeit auf die Praxis zu gewährleisten. Erste Voruntersuchungen zeigten bereits, dass durch den gezeigten Ansatz der reale Bauteilverzug um den Faktor drei reduziert werden konnte.

Grafik mit drei grünen Balken und drei Simulationen: Abweichung der simulierten Deformation zum CAD-Sollmaß, für eine unveränderte Kavität, die 1. Kompensation und die 2. Kompensation.
Abweichung der simulierten Deformation zum CAD-Sollmaß, für eine unveränderte Kavität, die 1. Kompensation und die 2. Kompensation. (Bild: IKV)

Dank

Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 02K19K513 gefördert. Dem BMBF gilt unser Dank. Weiterhin danken wir den Projektpartnern Impetus Plastics Engineer-ing, Kroma International und FAF Kunststofftechnik für die Zusammenarbeit.

Literatur

[1] N.N.: Mit weniger Iterationen zum perfekten Spritzgießwerkzeug. https://www.kunststoff-magazin.de/geometrische-pruefung/computertomographie-in-der-praxis-mit-weniger-iterationen-zum-perfekten-spritzgiesswerkzeug.html, 09.01.2023
[2] HOPMANN, CH.; LOOSEN, P.; STOLLENWERK, J.; LIU, B.; GERADS J.; HOFMANN, J. Gekoppelte Prozess- und thermooptische Auslegung - Kunststofflinsen im Laser sind möglich. Plastverarbeiter (2021) 72, S. 22-26
[3] HOPMANN, CH.; XIAO, C.; KAHVE, C. E.; FELLERHOFF, J. Prediction and validation of the specific volume for inline warpage control in injection molding. Polymer Testing 2021, 104 (S1), 107393
[4] HOPMANN, CH.; KAHVE, C. E.: Die Materialparameter entscheiden - Wie können Verzugssimulationen genauer werden? Plastverarbeiter (2022) 10, S. 60-63

Quelle: IKV

Sie möchten gerne weiterlesen?

Unternehmen

Institut für Kunststoffverarbeitung (IKV) in Industrie und Handwerk an der RWTH Aachen (Hauptsitz)

Seffenter Weg 201
52074 Aachen
Germany