Medical Grade Kunststoffe sind bei vielen Werkstoffherstellern seit langem am Markt verfügbar. Da bisher der Begriff Medical Grade Plastics nicht über eine Norm oder einen Standard definiert war, wurde er sehr unterschiedlich interpretiert, eine Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Produkten war nicht gegeben und der Punkt Liefersicherheit musste einzeln verhandelt werden. „Die Frage der Definition des Begriffs Medical Grade Plastics (MGP) wurde in der Medical/Pharma -Community schon lange diskutiert. Ich persönlich arbeite seit rund 25 Jahren im Bereich Entwicklung von Medical Devices und es gab immer wieder verschiedene Auslegungen dieses Begriffs, sowohl auf Seiten des Produzenten des Rohstoffs als auch auf Seiten des Inverkehrbringers/Herstellers des Medical Devices. Eine grundsätzliche, allgemeine Definition wurde von allen Seiten gefordert,“ erläutert Martin Itrich, 3M, Neuss, und Richtlinienausschussmitglied VDI 2017. „Meine Mitarbeit in verschiedenen VDI-Gremien, unter anderem als Leiter des VDI-Fachausschusses Kunststoffe in der Medizintechnik und weiteren unabhängigen Netzwerken, brachte mich auf die Idee, die verschiedenen Akteure anzusprechen und durch eine Anfrage beim VDI ein entsprechendes Richtliniengremium zu initiieren.“
Kunststoffverarbeiter in der Medizintechnik brauchen Sicherheit
Gerade den Kunststoffverarbeitern in der Medizintechnik (KiM) erschwerte die nicht vorhandene Richtlinie die Werkstoffauswahl für ein Produkt. „Die Versorgungssicherheit in einem hoch regulierten Umfeld herzustellen war die Motivation für die KiM-Gründung im Jahr 2007“, so Manfred Riehl, Gründungsmitglied des KiM. „Der KiM ist eine Vereinigung von hauptsächlich mittelständischen Kunststoffverarbeitern für die Health-Care-Branche. KiM-Ziel ist die gegenseitige Ertüchtigung der Beteiligten im Wechselspiel zwischen marktmächtigen Rohstoffherstellern der Kunststoffwirtschaft und global agierenden Inverkehrbringern der Medizin- und Pharmawirtschaft.“
Zielsetzung dieses Interessensverbundes war von Anbeginn, für die Mitglieder sichere Lieferzustände der Werkstoffe hinsichtlich definierter Eigenschaften, sicheren Ressourcen bei allen Vorprodukten sowie Abkündigungsfristen von mindestens drei Jahren bei Rezepturänderungen zu erreichen. Deshalb verfasste der KiM im Jahr 2013 ein internes Arbeitspapier und begann damit, die Eigenschaften und das regulatorische Umfeld eines Medical Grade Kunststoffs grundsätzlich zu beschreiben. Dieses Papier floss 2016 als eines der Startdokumente in die VDI-Richtlinienarbeit des von der VDI-Gesellschaft Materials Engineering gegründeten Richtlinienausschusses 2017 Medical Grade Plastics ein. Der Ausschuss verfolgte das Ziel, die an den Werkstoff für ein Medizinprodukt zu stellenden Anforderungen zu definieren sowie einen Standard festzulegen. Die nun ausgearbeitete Richtlinie dient Rohstoffproduzenten und Herstellern von Medizinprodukten als Leitfaden, in dem die gesamte Wertschöpfungskette von der Entwicklung sowie Einkauf und Beschaffung bis hin zur Logistik geregelt ist.
Richtlinienausschuss verfolgt klares Ziel
Dem Richtlinienausschuss (RA) gehören 20 Vertreter von Material- und Produkteherstellern, Inverkehrbringern und Benannten Stellen an. Den Vorsitz hatte bis 2019 Professor Dr. Thomas Seul von der Hochschule Schmalkalden übernommen. Er gab sein Amt an seinen Stellvertreter Professor Dr. Stefan Roth ab. Dieser beschreibt die VDI 2017 wie folgt: „Die Richtlinie hat zum Ziel, die Basisanforderungen an die Kunststoffe für den Einsatz in Medizinprodukten, pharmazeutischen Verpackungen und In-Vitro-Diagnostika zu definieren. Sie beschreibt somit als ‚kleinster gemeinsamer Nenner‘ die Basisanforderungen. Sie lässt je nach Anwendungsfall die Möglichkeit, weitere bilaterale Vereinbarungen zwischen Hersteller und Materiallieferant abzusprechen. In weniger als 18 Monaten, vom Start bis zur Realisierung der Richtlinie, ist es gelungen, einen gemeinsamen Mindeststandard zu definieren.
Die Richtlinie beschränkt sich zunächst auf Deutschland und wurde nicht als globaler Ansatz ausgelegt. Bis heute existieren keine EU- oder US-Richtlinien oder Normen, in denen MGP eindeutig beschrieben sind. So regelt die ab dem 26. Mai 2020 gültige europäische Medizinprodukteverordnung (MDR – 2017/745) zwar, welche Anforderungen an die Sicherheit von Medizinprodukten gestellt werden, sie legt allerdings nicht fest, welche spezifischen Eigenschaften beispielsweise Kunststoffmaterialien besitzen müssen, um daraus Medizinprodukte herzustellen. Gleiches gilt für die ISO-Normenreihe 10993, die die biologische Beurteilung von Medizinprodukten regelt.
VDI 2017 ist notwendig
Mike Freudenstein, Albis Plastic, Hamburg, und an der Ausarbeitung der Richtlinie beteiligt, beschreibt die Notwendigkeit der VDI 2017 wie folgt: „Kunststoffverarbeiter wählen unter Umständen Produkte für Artikel im Healthcare-Bereich rein auf Basis ihrer technischen Spezifikation aus. Sie betrachten dabei nicht, dass es für das jeweilige Material keine spezifischen regulatorischen Bestätigungen gibt oder dass das Material in einem recht großen Spezifikationsrahmen ohne lange Vorwarnzeit abgekündigt oder verändert werden kann. Beides führt unweigerlich dazu, dass entweder das bereits qualifizierte Material im Hinblick auf die Patientensicherheit neu bewertet werden muss oder gar die Qualifizierung eines Alternativmaterials notwendig wird.“ Diese Ansicht teilt auch das Ausschussmitglied Anja Gottschalk von Borealis, Wien: „Wir sehen die Notwendigkeit in unserem Marktsegment den Begriff MGP zu konkretisieren. Zurzeit existiert keine Erklärung und jeder Lieferant definiert diesen Begriff für sich unterschiedlich. Für den Verarbeiter, der ein MGP kaufen möchte, ist es damit schwer, Materialien zu vergleichen und die dahinterstehenden Serviceleistungen zu erkennen.“ Die Inverkehrbringer von Medizintechnikprodukten brachten ihre Argumente ebenfalls in das Dokument ein. RA-Mitglied Christian Pommereau von Sanofi, Frankfurt, ist überzeugt, dass die Richtlinie Klarheit in den Anforderungen an MGP bringt. „Inverkehrbringer und Vertreter der Wertschöpfungskette werden dazu gebracht, sich an einen Tisch zu setzen und klare sowie vertraglich bindende Spezifikationen zu setzten“, so Pommereau. „Es ist also allen geholfen, denn aus dem geführten Dialog werden vertragliche Dokumente entstehen.“
Veränderungen für die MT-Branche
Gerade für die Materialhersteller bringt die VDI 2017 Veränderungen, denn es sind gewisse Anforderungen zu überdenken und zu erfüllen, wenn das Produkt dem Medical Grade Plastics entsprechen soll. Dominik Rösch, Melitek, Alslev, Dänemark, verweist auf die Richtlinienkompetenz des VDI, und dass es hilfreich ist, die Richtlinie als Diskussionsgrundlage zu haben. Außerdem ist auch er froh, dass der Begriff nun endlich definiert sei. „Für Melitek, als Hersteller von Elastomer- und Polymercompounds sind die definierten Anforderungen keine Hürde, da wir diese bereits mit unseren Produkten erfüllen,“ erklärt Rösch.
Doch den einen oder anderen Hersteller werden die festgelegten Anforderungen verwundern und sie werden „nachbessern“ müssen. Denn der Begriff Eigenschaften bezieht sich für diese Werkstoffgruppe nicht allein auf die technischen Kennwerte, sondern schließt die Kommunikation mit dem Verarbeiter sowie eine aussagekräftige Produktdokumentation mit ein. „Aspekte, die für ein MGP geregelt werden und Transparenz schaffen, sind unter anderem das Änderungsmanagement und die daraus resultierende Liefersicherheit für den Verarbeiter, die Definition der Rezepturkonstanz und weitere regulatorische Grundvoraussetzungen, wie, wer muss wem welche Informationen zur Verfügung stellen,“ sagt Oliver Kluge, Kraiburg TPE und RA-Mitglied.
„Grundsätzlich wird das Anforderungsprofil an die Polymer- und Additivlieferanten ein gutes Stück höher gesetzt, sodass sich einige Hersteller fragen müssen, ob sie dieses Marktsegment weiter bedienen können,“ meint Daniel Behrens, Clariant Plastics & Coatings, Frankfurt. „Zunächst handelt es sich um einen ersten Schritt zur Harmonisierung der Produktanforderungen. Die Auswahl der möglichen zu verwendenden Produkte und Rohstoffe wird dadurch erheblich reduziert. Nichtsdestotrotz haben alle großen Rohstoffhersteller bereits ein dementsprechendes Produktportfolio entwickelt und müssen nun
ihre eigenen Definitionen bezüglich VDI 2017 etwas nachschärfen.“ Dies bestätigt Alexander Wörz, Lyondell Polymers, Frankfurt, und Mitglied des RA: „Wir sind überzeugt, dass unsere am Markt etablierten Purell-Produkte der neuen Richtlinie weitestgehend entsprechen. Letztendlich müssen wir die Richtlinie noch formal in allen Details überprüfen und dokumentieren.“
Mit Spannung erwartet
Nun ist eine Richtlinie vorhanden. Wie stehen die Akteure in der Medizintechnikbranche dazu? Die Unternehmen sind neugierig auf die Richtlinie und wollen wissen, in wie weit sie den Anforderungen bereits gerecht werden. Neueinsteiger in die Medizinbranche verwenden die Richtlinie dankbar als Leitfaden, denn sie haben jetzt ein Dokument an der Hand, um ausreichend qualifizierte Materialien für die Produkte auswählen zu können. Die Vorstellungen des KiM zum Thema MGP und der Umgang mit diesen Werkstoffen sind im Wesentlichen aufgenommen, sodass Riehl die Richtlinie als einen guten Start betrachtet. Alexander Ruth, Category Manager für Granulat bei B. Braun Melsungen, führt aus: „Für unsere Endprodukte liefert die Richtlinie und die konform hergestellten Materialien, einen Gewinn an Sicherheit und Verlässlichkeit. Im Rahmen des Sourcing und bei Materialanfragen werden wir die VDI 2017 anwenden. Herstellerindividuelle Definitionen von Medizin-Typen oder auch abweichende Anforderungen seitens der Verarbeiter unterliegen damit einer neutralen Rationalen.“ Für die tägliche Arbeit sind für Ruth der Roll-Out und die Etablierung der Richtlinie sowie deren Verbreitung und Akzeptanz über Europa hinaus wichtig.
Am Lehrstuhl für Medizintechnik der Technischen Universität München (TUM), wird die Richtlinie ebenfalls begrüßt. „Mit der kommenden Richtlinie wird Klarheit geschaffen, was von einem MGP erwartet werden kann. Welche Tests wurden für welchen Kunststoff unter welchen Bedingungen durchgeführt? Diese Werte müssen künftig dokumentiert und mit dem Endkunden geteilt werden“, berichtet Stefan Leonhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TUM. „Haben Medizinproduktehersteller Sicherheiten hinsichtlich Rezepturkonstanz und Lieferzeitraum, so fällt die Entscheidung in die Entwicklung eines neuen Produktes zu investieren deutlich leichter.“
Doch auch die Hersteller von Nachfolgeprozessen erwarten die rezepturkonstanten Werkstoffe mit Spannung. So berichtet Erhard Krampe, Plasmatreat, Steinhagen: „Da der Erfolg einer Plasmabehandlung oft mit der Einhaltung eines bestimmten Aktivierungsfensters verbunden ist, sind Themen wie Additivierung und Rezepturkonstanz bei den in der Medizintechnik eingesetzten Materialtypen von großer Bedeutung. Ändert der Kunststofflieferant signifikant seine Rezeptur kann dies nachfolgende Prozesse stark beeinflussen, sodass beispielsweise eine Verklebung einer notwendigen Bauteilsterilisation nicht mehr standhält. Die mittels der Plasmabehandlung einmal gefundene Problemlösung wird nicht mehr durch batchweise schwankende Werkstoffeigenschaften gefährdet. Dies und Themen wie Rezepturkonstanz und verlängerte Abkündigungsfristen von Medical Grade Kunststoffen finden positive Resonanz bei manchen Kunden.“
Richtlinie trifft Nerv des Marktes
Compoundeure und Rohstoffhersteller können folgende Rückmeldungen vom Markt geben: „Das Interesse an diesem Thema ist enorm, was meiner Meinung nach zeigt, dass die Richtlinie einen Nerv getroffen hat,“ berichtet Freudenstein. „Wichtig ist hierbei aber auch, die Erwartungshaltung der Branche im richtigen Maß zu adressieren. Ich habe in manchen Gesprächen mit Kunststoffverarbeitern oder auch mit Endkunden aus der Medizin- oder Pharmabranche herausgehört, dass man sich noch eine wesentlich weitergehende und technisch noch detailliertere Vorgabe zu MGPs wünschen würde. Dies ist aber aus meiner Sicht, aufgrund der enormen Bandbreite der jeweiligen Anwendungen und der daraus resultierenden spezifischen Anforderungen an ein Rohmaterial nicht zu leisten. Am Ende muss man auch sehen, dass die vorliegende Richtlinie aus der gemeinsamen Arbeit von Kunststoffproduzenten, Verarbeitern und Endkunden aus der Healthcarebranche entstanden ist.“ Auch Clariant beschreibt die Resonanz des Marktes als durchweg positiv, da die Unternehmen durch die Richtlinie eine Vereinfachung ihrer Spezifikationsprozesse sehen. „Bisher wird noch sehr kunden- und produktspezifisch gearbeitet, sodass es sicherlich noch etwas Zeit benötigt, bis die VDI 2017 tatsächlich auch für Materialspezifikationen verwendet wird,“ weiß Behrens. „Die neue Richtlinie erzeugt im Markt eine sehr hohe Aufmerksamkeit,“ berichtet Wörz. „Wir werden fortwährend von unseren Kunden angesprochen, wie wir diese sehen und implementieren.“
Ist nach der Richtlinie vor der Richtlinie?
„Der Richtlinienausschuss hat insgesamt rund 80 Kommentierungen erhalten, die von fachlicher, qualitativer Tiefe sind und gezeigt haben, dass sich die Branche mit der Richtlinie eingehend auseinandersetzt. Die Kommentierungen haben wir im RA-Team diskutiert und bewertet. Viele Kommentare haben die Richtlinie nochmal sinnvoll ergänzt und Begriffe und Formulierungen geschärft und wurden in die finale Fassung eingepflegt,“ erläutert Roth. „Die finale Fassung ist verabschiedet und in der Vorbereitung für den sogenannten Weißdruck, der im Frühsommer 2019 zweisprachig (deutsch/englisch) erscheinen wird. Darüber hinaus streben wir eine Revision bereits 2020 an, dies vor dem Hintergrund und den Erfahrungen, die man dann mit der neuen Medizinprodukterichtlinie MDR 2017/745 gesammelt hat.“
Am 9. und 10. Juli veranstaltet der VDI in Berlin eine Konferenz zu diesem Thema. Die Konferenz informiert über Inhalte, Motivation und Umsetzung des neuen Regelwerks, das mit den Tagungsunterlagen an die Teilnehmer ausgehändigt wird. Erfahrungsberichte aus Unternehmen und Best Practices zeigen, was die Neuregelung für die Medizintechnik bedeutet.
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