Nach zwei Jahren im pandemiebedingten „Online-Exil“ konnten die Biopolymer Innovation Awards endlich wieder live vor Publikum überreicht werden. Doch nicht nur die geladenen Gäste in der Georg-Friedrich Händel-Halle in Halle (Saale) feierten die Ausgezeichneten mit ihrem Applaus. Auch Zuschauer aus aller Welt, die die Tagung wie in den Vorjahren an PCs, Handys und Tablets im Livestream verfolgten, bewiesen, dass die Neuentwicklungen der drei Nominierten sie am Ende des spannenden Kongresstags in ihren Bann zu ziehen vermochten.
Dr. Christian Patermann war am Abend voll des Lobes für die aus seiner Sicht für Deutschland und Europa „unschätzbar wichtige Veranstaltung“. Der Begründer der Bioökonomie in der Europäischen Union, der am Morgen als Keynote Speaker mit aufrüttelnden und auch mahnenden Worten die weltweiten Entwicklungen auf diesem Gebiet mitreißend analysiert hatte, ließ sich keinen der nachfolgenden Vorträge entgehen. In den Pausen war der 80-Jährige ein ebenso begehrter Gesprächspartner wie beim Get-together am Abend.
In mehr als einem Dutzend Vorträgen erhielten etwa 550 registrierte Teilnehmer (davon etwa 50 geladene Gäste in der halleschen Georg-Friedrich-Händel-Halle) anschließend unter anderem Einblicke in den Biokunststoffmarkt Vietnams, das in diesem Jahr als Partnerland des Kongresses im Fokus stand. Darüber hinaus informierten Experten aus mehreren Ländern über ihre Ansätze der Rohstoffgewinnung für Biokunststoffe, neue Wege zum Herstellen und Verarbeiten der Zukunftsmaterialien sowie über Anwendungsbeispiele aus der Praxis.
Ein besonderer Höhepunkt war einmal mehr die Ehrung der Preisträger des Wettbewerbs um die Biopolymer Innovation Awards. Die begehrten Auszeichnungen wurden in diesem Jahr zum vierten Mal vergeben. Erstmals gingen dabei alle drei Trophäen an deutsche Bewerber, nachdem in den letzten Jahren unter anderem Innovationen aus Finnland, Italien, Belgien und Brasilien mit Preisen gekrönt wurden.
Alles zum Thema Biokunststoffe
Auf dem Weg zu einer klimaneutralen Zukunft müssen verschiedenste Rädchen ineinander greifen. Doch wie schaffen wir es, die Dekarbonisierung unserer Gesellschaft umzusetzen? Biokunststoffe sind ein wichtiger Hebel um diesem Ziel näher zu kommen. Doch was wird unter einem Biokunststoff eigentlich verstanden? Wo werden diese bereits eingesetzt? Und ist "Bio" wirklich gleich "Bio"? Wir geben die Antworten. Alles, was Sie zu dem Thema wissen sollten, erfahren Sie hier.
Das sind die Gewinner 2023
Der 3. Preis ging an Sobico aus Bad Sobernheim (Rheinland-Pfalz) für ihre Innovation Plactid. Die Marke steht für einen wegweisenden Ansatz, um dem weltweit populären Biokunststoff Polymilchsäure (PLA) zahlreiche neue Einsatzfelder zu eröffnen. Vor allem die relativ geringe Bruchdehnung, begrenzte Schlagzähigkeit und die milchige Optik schränken das Einsatzspektrum von PLA bislang ein. Klassische Modifikationsversuche scheitern oft an dem komplexen Migrations- und Kristallisationsverhalten von Weichmachern und anderen Additiven in PLA. Das Team um Geschäftsführer Johannes Fuchs suchte deshalb nach grundlegend anderen Lösungen. So entstand gemeinsam mit dem Potsdamer Fraunhofer Institut für Angewandte Polymerforschung (IAP) das Konzept für Plactid: eine PLA-Copolymer-Familie, die in einem neuartigen Verfahren – der reaktiven Compoundierung – hergestellt wird. Neben biobasiertem Lactid kommen dabei verschiedene Polyole zum Einsatz, die je nach Anwendungsfall aus biologischen oder fossilen Quellen stammen können. Die PLA-Copolymere lassen sich gezielt von hart/spröde bis weich/duktil einstellen, in vielen Fällen unter Erhalt der Bioabbaubarkeit. So werden zum Beispiel weiche Folien von hoher Kristallinität möglich. Aber auch Spritzgusstypen mit einer deutlich höheren Kristallisationsgeschwindigkeit und Schlagzähigkeit als Standard-PLA können erzeugt werden. Darüber hinaus eignen sich die PLA-Copolymere auch als Additive zum Modifizieruen von Standard-PLA. Neben diesen zukunftsweisenden Ergebnissen würdigt die Jury mit dem Preis ebenso die Ausdauer des Teams, das bis zur Produktreife sieben Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit investierte.
Der 2. Preis wurde Green Elephant, einem Start-Up aus Gießen zugesprochen für Cellscrew – einem neuartigen Bioreaktor zum Vermehren adhärenter (also an Oberflächen wachsender) Zellkulturen. Denn mit dieser Innovation wird die Bereitstellung lebenden Gewebes beispielsweise für Gen- und Zelltherapien oder für die Erforschung von Kosmetika und Medikamenten nicht nur bedeutend effizienter. Green-Elephant-Kunden können damit obendrein ihre Klimabilanz für Einweg-Labormaterial um bis zu 90 % verbessern! Fakt ist: neben lebensrettenden und für die Forschung unverzichtbaren Zellen produzieren Labore rund um den Globus mittlerweile auch etwa 10 Mio. t Plastikmüll pro Jahr, Tendenz stark steigend. Das Team um die Green-Elephant-Gründer Felix Wollenhaupt und Joel Eichmann setzt diesem Trend mit Cellscrew nun ihre revolutionäre Technologie entgegen. Im Gegensatz zu den bisher überwiegend aus erdölbasiertem Polystyrol gefertigten Zellkulturflaschen besteht Cellscrew aus vollständig biobasiertem PLA (Polylactid). Darüber hinaus ersetzt ein Cellscrew-System bis zu 450 übliche Zellkulturflaschen. Möglich wird dies durch ein ausgeklügeltes Design, das auch das Handling im Labor radikal vereinfacht: Eine archimedische Schraube in der Flasche sorgt im Zusammenspiel mit konzentrischen Zylindern bei rollender Lagerung nicht nur für einen kontinuierlichen Transport des Zellkulturmediums, sondern erzeugt auch eine im Vergleich zu bisherigen Systemen riesige interne Oberfläche – bei 80 % weniger Materialeinsatz. Begeistert hat die Jury besonders die Konsequenz, mit der sich die Gießener Start-up-Gründer, die als Quereinsteiger zu Kunststoffverarbeitern wurden, die Vorzüge des Werkstoffes zunutze machen. Die hohe Biokompatibilität von PLA gehört dazu ebenso wie die Tatsache, dass sich das Material hervorragend im 3D-Druck verarbeiten lässt. Und wenn das Produkt nach der Einmalverwendung wie konventionelle Zellkulturflaschen aus Sterilitätsgründen nicht recycelt oder kompostiert, sondern verbrannt wird, spielt das biobasierte Material einen weiteren Vorzug aus: Anders als bei fossilen Werkstoffen wird dabei kaum mehr Treibhausgas freigesetzt, als die Pflanzen, die als Rohstoffe dienten, unserer heutigen Atmosphäre zuvor entnommen haben.
Der mit 2.000 Euro dotierte Hauptpreis ging an das Thüringische Institut für Textil- und Kunststoff-Forschung Rudolstadt (TITK) e.V. für die Entwicklung des vollständig biobasierten und bioabbaubaren Heißklebers Caremelt. Heißkleber finden sich heute in sehr vielen Produkten und haben längst auch den Heimwerkermarkt erobert. Bis zu einem Fünftel aller heutigen Klebstoffe fallen in diese Kategorie! Dennoch war bislang kein vollständig biobasierter und bioabbaubarer Schmelzklebstoff am Markt verfügbar. Was umso bemerkenswerter ist, als Verklebungen sich aus technischen und wirtschaftlichen Gründen nur höchst selten wieder aus Produkten herauslösen lassen. So enden Klebstoffe – zum Beispiel durch Produktnutzung und Verschleiß, unsachgemäße Entsorgung oder andere Umstände – nicht selten als Mikroplastik in der Umwelt. Die Forscher und Entwickler des TITK haben sich also einem Problem zugewandt, dessen Lösung so überfällig wie technisch herausfordernd ist! Der Mut des TITK-Teams um Projektleiter Andreas Krypczyk, diese Herausforderung anzunehmen und das Ergebnis beeindruckten die Jury gleichermaßen: Der Klebstoff wird, wenn er in die Umwelt gelangt, durch Mikroorganismen und natürliche Abbauprozesse wieder vollständig Teil natürlicher Kreisläufe. Darüber hinaus ist es als komplett biobasierter Klebstoff CO2-neutral. Die Eigenschaften des Klebers und sein Anwendungsprofil lassen sich, unter Beachtung der etwas geringeren thermischen Belastbarkeit, mit denen etablierter Schmelzkleber vergleichen. Die zum Patent angemeldete Komposition aus Polymilchsäure (PLA), Polybernsteinsäure (PBS), Terpen- und Kolophoniumharzen, natürlichen Wachsen und Zitronensäure-Derivaten eignet sich nicht nur für kurzlebige Produkte wie Einkaufstüten, Windeln oder Kartonagen. Auch in Schuhen, Textilien, Holz, Metall- oder Möbelteilen sowie Büchern können Klebeverbindungen dank der Neuentwicklung aus Thüringen künftig bioabbaubar sein.
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Wann der nächste Kongress stattfindet
Nach der erfolgreichen Premiere der Hybridveranstaltung kündigte der ausrichtende Polykum e.V. noch am selben Abend eine Neuauflage des seit 2018 stattfindenden Kongresses in dieser Form für den 11. Juni 2024 an.
Quelle: Polykum