Ein silbernes Instrument auf einem Testpunkt.

Instrumentierte und ortsauflösende Härtemessung an medizinischen Schläuchen mit dem LNP Nano Touch. (Bild: Ludwig Nano Präzision)

Weichgemachtes PVC ist noch immer der Kunststoff der Wahl für medizinische Schläuche in den Kliniken Europas. Doch es gibt zunehmend Kommunen, Klinikverbände oder einzelne Krankenhäuser, die den Einsatz von PVC vor allem aufgrund der gesundheitsbedenklichen Weichmacher abschaffen oder zumindest stark reduzieren wollen. Beispielsweise gab es bereits 2004 über das Vemed-Projekt in Österreich eine durch die Stadt Wien unterstützte Initiative zur Aufstellung einer PVC-Bilanz mit dem Ziel PVC in medizinischen Anwendungen zu vermeiden. 11 Kliniken stellten Produkt- und Materialdaten zur Verfügung. Die Analyse zeigte, dass mehr als die Hälfte des PVC-Stoffstroms von medizinischen Schläuchen wie Infusionsgeräten herrührt [1]. Der hochgerechnete Gebrauch dieser Schlauchsysteme in Europa beträgt nach eigenen Schätzungen jedes Jahr viele hundert Millionen. Damit liegt die Materialverbrauchsmenge an Schlauch im Bereich von einigen zehn Kilotonnen jährlich. Aufgrund des öffentlichen und des Kundendrucks sind in den letzten 15 Jahren auch Inverkehrbringer zunehmend bemüht, ihre Produkte auf PVC-freie Alternativen umzustellen. Materiallieferanten bieten hierzu hauptsächlich styrolbasierte oder urethanbasierte thermoplastische Elastomere (TPE-S und TPE-U), sowie neuerdings auch polyolefinbasierte Schlauchmaterialien auf dem Markt an – Materialsysteme die ohne Weichmacher auskommen. Doch warum ist dann PVC noch immer das Hauptmaterial bei Infusionsgeräten? Auf welche Eigenschaften kommt es in der Praxis an und warum tun sich Ersatzmaterialien gegen PVC so schwer? Den Erkenntnissen aus der Praxis zufolge ist die Antwort oft das fehlende Schnittstellenverständnis, um Produktanforderungen in Materialeigenschaften zu übersetzen.

So spielen Material- und Produkteigenschaften zusammen

Damit ein Kunststoff als Schlauch funktioniert, muss er einerseits wirtschaftlich verarbeitbar sein und andererseits wesentliche Produkteigenschaften wie beispiels-weise Knickstabilität oder Medikamentenverträglichkeit erfüllen können. Eine der zentralen Eigenschaften ist bei Infusionsschläuchen die sogenannte Pumpenkompatibilität, um das funktionierende Zusammenspiel zwischen Infusionspumpen und Schlauch zu gewährleisten – hierzu zählen Anforderungen, wie Luftsensorkompatibilität, Förderratengenauigkeit, Okklusivierbarkeit und Drucksensorkompatibilität. Bei dieser Anforderung kommt erschwerend hinzu, dass für eine neue Schlauchalternative meist keine neue Pumpe entwickelt wird und das Alternativ-material somit auf bestehenden Pumpen verschiedener Produktgenerationen auf dem Markt funktionieren muss. Letztlich sind alle Produktkriterien maßgeblich bestimmt durch die chemischen und physikalischen Eigenschaften des eingesetzten Materials. Bei der Suche nach Schlauchalternativen ist das oft einzig verfügbare Kriterium die Härte, die typischerweise als Shore-Härte angegeben wird. Erfahrungsgemäß ist sie verglichen mit allen anderen Eigenschaften das bestimmende Hauptmerkmal in praktischen Diskussionen und bei Material-neuentwicklungen seitens der Materialhersteller. Diesen Stellenwert hat die Härte nicht vollkommen zu unrecht. Immerhin bietet sie einen Kennwert, der schnell, einfach und günstig abzuprüfen ist. Zusätzlich bietet der Kennwert Härte eine erste Idee der Haptik und Mechanik des späteren Schlauchs. Mehr als eine grobe Abschätzung ist die Härte allerdings nicht, was anhand eines Praxisbeispiels gezeigt wird.

Schematische Darstellung des Aufbaus der Drucksensorik in einer Infusionspumpe.
Schematische Darstellung des Aufbaus der Drucksensorik in einer Infusionspumpe. (Bild: Polyneers)

Drucksensorkompatibilität in der Infusionspumpe

Zum Verständnis soll zunächst kurz das Funktionsprinzip der Drucksensorik in einer Infusionspumpe erläutert werden. Diese ist dazu da, Druckabfälle (durch Leerlaufen des Infusionsreservoirs) oder Druckanstiege (durch verschlossene Infusionsleitung) zu erkennen. Sie ist damit unmittelbar für die Patientensicherheit verantwortlich. Der Sensor selbst ist mechanisch direkt an den Schlauch durch eine Art weggesteuerte Vorkomprimierung gekoppelt. Am Sensor liegt also stets der Druck des durchfließenden Fluids plus der zu überwachende Druck der Schlauchmaterials selbst an. Letzterer ist jedoch durch die Natur der viskoelastischen Eigenschaft des Kunststoffs nicht konstant, sondern nimmt durch die Vorkomprimierung anfänglich von einem Startwert stetig ab (Spannungsrelaxation). Dieser Abfall des Druckwertes muss über einen Algorithmus in der Pumpe kompensiert werden, damit die tatsächlichen Druckunterschiede des Fluids erkannt werden können.

Übersetzt bedeutet dies, dass Alternativmaterialien zum bisherigen PVC genau die gleiche Spannungsrelaxations- beziehungsweise Kriecheigenschaften besitzen müssen, damit sie auf der Pumpe ohne Softwareveränderungen oder der Entwicklung neuer Pumpengenerationen funktionieren. Wird nun wie üblich ein Ersatzmaterial wie TPE-S oder TPE-U gleicher Shore Härte (zumeist 80A ± 5) verwendet, so wird erst in einem instrumentierten Messverfahren, wie dem von Ludwig Nano Präzision deutlich, warum der Schlauch nicht funktionieren kann. Per Definition ist die Härte ein Eindruckweg eines mit einer bestimmten Kraft beaufschlagten Prüfstempels bei einem Zeitpunkt. Sie ist somit lediglich die Momentaufnahme einer Kriechkurve. Der LNP Nano Touch kann hingegen das gesamte Materialverhalten sehr präzise und sogar ortsaufgelöst aufzeichnen. Dabei zeigt sich durch eigene Messungen an einem PVC-Schlauch und einem TPE-U-Schlauch zunächst im Anfangskorridor nach wenigen Sekunden eine gute Übereinstimmung des Eindringwegs in den Schlauch. Dies erklärt auch die ähnlichen Härtewerte der beiden Schlauch-materialien bei der Härtebestimmung nach Shore A (Kennwert bei 3 s Messzeit). Gemäß Anwendungseignung in der Drucksensorik müsste jedoch die gesamte Messkurve identisch sein. Beim Vergleich wird deutlich sichtbar, dass beide Materialien bei ähnlicher Härte ein komplett unterschiedliches Materialverhalten aufweisen. Die Belastungszeit spielt also beim Materialverhalten eine wesentliche Rolle für die Anwendbarkeit in der Drucksensorik und damit auch für die Sicherheit des Medizinprodukts.

Diagramm mit einer roten und einer blauen Linie.
Instrumentierte Härtemessung über Zeit, Startbereich guter Messwertübereinstimmung gelb markiert (Bild: Polyneers)
Temperaturkurve von PVC und TPE
Dynamisch-mechanische Analyse zweier Schlauchmaterialien für Infusionsschläuche (Schermodus, 1 Hz), Temperaturbereich der Anwendung gelb markiert, Punkte kennzeichnen Steifigkeit bei Raumtemperatur sowie 40 °C. (Bild: Polyeers)

Ein weiteres Kriterium ist zusätzlich zum zeitlichen Eigenschaftsverlauf die Temperaturabhängigkeit, da jedes Medizinprodukt innerhalb eines spezifischen Temperaturbereichs sicher funktionieren muss. Bei Infusionsschläuchen liegt dieser Bereich grob zwischen 0 und 50 °C. Alternative Schlauchmaterialien müssen sich also hinsichtlich Eigenschaftsprofil in ihrer Temperaturabhängigkeit in diesem Bereich möglichst identisch zum etablierten PVC verhalten. Mittels dynamisch-mechanischer Analyse lässt sich dies überprüfen. Dabei wird durch eigene Messreihen, die im Labor für Kunststoffprüfung und Polymerphysik der Hochschule Osnabrück durchgeführt wurden, im Vergleich deutlich, dass es durchaus eine vergleichbare Mechanik bei Raumtemperatur (~23 °C) gibt. Im Verlauf ist die Temperaturabhängigkeit jedoch vollkommen unterschiedlich. Die Mechanik von TPE-U ist im Anwendungsfenster von 0 bis 40 °C deutlich weniger temperaturabhängig als PVC – so ist das TPE-U bei 40 °C nahezu 3-mal so steif wie PVC. Wird diese Betrachtung für die Anwendung in der Pumpensensorik außer Acht gelassen, führt dies zur völligen Unbrauchbarkeit des Alternativmaterials und schließlich zu einer erheblichen Patientengefährdung.

Warum Kunststoffe keine Kennwerte haben

Die Eigenschaften von Kunststoffen sind unter anderem abhängig von der Belastungszeit beziehungsweise -frequenz und der Temperatur. Dies ist keine neue wissenschaftliche Erkenntnis, sondern steckt im Wesen des polymeren Aufbaus aller Kunststoffe und wird als Viskoelastizität bezeichnet. Trotzdem versucht die Industrie oft Kennwerte für die Material(ersatz)suche zu definieren. Bei komplexen Anwendungen, bei denen es um die Patientensicherheit geht, führt diese eindimensionale Betrachtung unweigerlich zu langen Entwicklungszeiten und späten Projektrückschlägen. Der Übertrag von Produktanforderungen in Materialeigenschaften und andersherum ist hier entscheidend. Nur wenn ein Inverkehrbringer seine Anforderungen kennt und klar definiert und zusätzlich Materiallieferanten die Anwendungen verstehen, entstehen neue Produkte sicher und effizient. Dabei helfen einzelne Kennwerte wenig weiter, denn Kunststoffe haben keine Kennwerte, sondern ein Materialverhalten, das auf die jeweiligen Produktanforderungen abgestimmt sein muss.

Literatur
[1] Identifikation der PVC-haltigen medizinischen Artikel und Erstellung einer PVC-Bilanz. Projekt VEMED – Bilanz, Endbericht, im Auftrag der Stadt Wien, 2005.

Quelle: Polyneers

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