In der Kunststoffverarbeitung für pharmazeutische und medizintechnische Produkte ist es doppelt schwierig, selbstlernende Systeme einzusetzen. Dutzende Prozessparameter, die thermodynamisch zusammenhängen (Stichwort p-v-T-Diagramm), müssen aufeinander und auf das gerade zu verarbeitende Rohmaterial, Zustand des Werkzeugs und Qualitätsmerkmale am Endprodukt abgestimmt sein sowie stets innerhalb des validierten Prozessfensters liegen. Dazu kommt, dass ähnliche Maschinen sich unterschiedlich verhalten, sei es aufgrund des unterschiedlichen Alters innerhalb der gleichen Maschinenbaureihe oder unterschiedliche Regelungskonzepte beziehungsweise verwendete Funktionen und Komponenten bei unterschiedlichen Maschinenherstellern oder Maschinengenerationen. Dies hat bisher verhindert, dass Einstellparameter 1:1 übertragbar waren, selbst bei gleichen Werkzeugen.
Um Maschinen trotzdem voneinander lernen zu lassen und somit stets Zykluszeit und Ausschuss auch bei schwankenden Eingangsgrößen optimal zu halten, forscht und entwickelt das Fraunhofer Spin-off Plus 10 mit dem SKZ Kunststoff-Zentrum im Rahmen des Forschungsprojekt DarWIN an übertragbaren Modellen. Schon die geringste Abweichung bei Parametereinstellungen kann Qualitätseinbußen generieren oder höhere Zykluszeiten hervorrufen. Mehrere Faktoren haben Einfluss auf das Abstimmen der Prozessparameter. So können die Umgebungsbedingungen, die Eigenschaften des Rohmaterials oder auch der Zustand des Werkzeugs- oder Maschinenzustands entscheidend sein. Beim Spritzgießen werden in solchen Fällen die Prozessparameter meist zugunsten einer minimalen Ausschussquote eingestellt, um zwar langsamer aber zumindest mit konstant gutem Output zu produzieren. Hierdurch leidet die Wirtschaftlichkeit, was sich nur durch ein Automatisieren der Prozessnachführung und Parameteroptimierung basierend auf den gerade vorliegenden Rohmaterial- und Umgebungsbedingungen lösen lässt. Ziel ist es, stets den besten Kompromiss zwischen minimaler Ausschussrate und minimaler Zykluszeit zu finden und einzustellen – und das für jeden Schuss.
Weshalb ein herstellerunabhängiger Vergleich wichtig ist
Bereits seit Ende des Jahres 2020 laufen die Versuchsreihen für das Forschungsprojekt DarWIN. Ziel des KI-Projekts ist es, detaillierte Verhaltensmodelle von Spritzgießmaschinen auf hochfrequenten Maschinendaten zu lernen. Dafür werden Maschinen unterschiedlicher Hersteller herangezogen, die im Laufe der Zeit ähnliche Teile produzieren. Auf diese Weise sollen die auf einer Maschine gelernten Verhaltensmodelle auch auf andere Maschinen übertragbar sein, ohne die Modelle für jede Maschine wieder komplett neu zu lernen. Die Verhaltensmodelle schlagen optimierte Prozessparameter für den nächsten Schuss vor, um bei minimal möglicher Zykluszeit ohne Ausschuss zu produzieren.
Die Projektpartner erforschen anwendungsnah neueste Machine-Learning-Modelle zur Verhaltensbeschreibung von zyklischen Fertigungsprozessen am Beispiel des Spritzgießens. Im Zentrum steht die Online-Fähigkeit, also die Bildung und Erweiterung eines Modells, während der Prozess läuft. Daneben spielt auch die Untersuchung der Übertragbarkeit von vortrainierten Machine-Learning-Modellen von einer Maschine auf ähnliche, nicht identische Maschinen eine zentrale Rolle. Ein maschineller Evolutionslerner des Unternehmens Plus 10 generiert Optimierungsvorschläge basierend auf dem Verhaltensvergleich mit allen beteiligten gleichen beziehungsweise ähnlichen Maschinen.
An der Forschungseinrichtung steht für die Versuchsreihen eine große Maschinenvielfalt der Hersteller Arburg, Engel, Krauss Maffei, Sumitomo (SHI) Demag sowie Wittmann Battenfeld zur Verfügung. Vom Start-up fließt die Expertise zur automatisierten Produktionsoptimierung mittels kontinuierlich lernender Modelle sowie die dafür nötige hoch-performante Daten-infrastruktur in das Projekt ein. Die Würzburger Spritzgießspezialisten beurteilen die während den Versuchsreihen erzeugten situativen Optimierungsvorschläge und analysieren die Bauteilqualität sowohl auf geometrische als auch mechanische Eigenschaften im hausinternen Prüflabor.
Ein Evolutionslerner, der Prozessparametervorschläge generiert
Um ein Modell mit Berücksichtigung aller Einflussgrößen empirisch zu konzipieren und zu entwickeln, müssen klassisch nach einem Design-of-experiments (DoE) Versuchspläne aufgebaut und durchgeführt werden. Ziel ist es, dass die Modellgenerierung und somit Vorschläge von anzupassenden Prozessparametern kontinuierlich und betriebsparallel stattfinden. Aus einem stetigen Input für das Modell werden live optimierte Prozessparameter errechnet und für den nächsten Maschinenzyklus vorgeschlagen. Die statistischen Modelle weisen während der Optimierung zudem eine Gesamtunsicherheit aus, um dem Prozessexperten ein Gefühl zu geben, wie sicher sich das System mit dem Vorschlag ist. Ziel ist es immer, die Produktionsrate von Gutteilen zu maximieren. Diese ergibt sich aus der prognostizierten Zykluszeit und dem prognostizierten Risiko, mit diesen Einstellungen ein Schlechtteil zu produzieren sowie den jeweiligen Unsicherheiten für diese beiden Prognosen.
Im Rahmen des Forschungsprojekts steht das übergreifende Lernen zwischen unterschiedlichen Maschinen beziehungsweise unterschiedlicher Produkte im Vordergrund. Für baugleiche Maschinen und identische Produkte sind auch industriell schon Erfolge erzielt worden: Beim Spritzgießen konnte der Output um 10 bis 17 % gesteigert werden. So berichtet Reinfried Wobbe (Director Digital Business Development/Industrie 4.0) von Freudenberg folgendes: „Plus 10 hat mit ihrer kontinuierlich lernenden Darwin-Recommender Technologie auf mehreren Spritzgießmaschinen den praktischen Beweis erbracht, dass signifikante Produktionssteigerungen bei der Elastomerverarbeitung auch real möglich sind.