Spritze mit Ampullen und Stethoskop

Kaum ein modernes Medizinprodukt kommt ohne Kunststoffe oder Elastomere aus. (Bild: Zerbor/Fotolia)

Zwar entfallen nur etwa drei Prozent der Kunststoffproduktion auf den Bereich Medizintechnik. Gleichwohl spielen die polymeren Werkstoffe eine herausragende Rolle in diesem Segment. Vom Gehäuse für medizinische Großgeräte über Schläuche, Infusions- und Injektionssysteme bis hin zu Implantaten und Orthesen − etwa die Hälfte aller medizintechnischen Produkte besteht mittlerweile aus Kunststoff, mit steigender Tendenz. Vor allem aufgrund ihrer Wachstumsdynamik und Innovationsfreudigkeit bildet diese Branche ein zunehmend wichtiges Kundensegment für die Kunststoffverarbeitung. Ebenso wie die Pharmaindustrie bewegen sich die Medizinprodukte-Hersteller − und deren Zulieferer − zurzeit im Fahrwasser übergeordneter Wachstumstreiber, wie etwa die Alterung der Gesellschaften und die rasant steigenden Gesundheitsausgaben beispielsweise in Schwellenländern.

Die positive Geschäftsentwicklung ist auch hierzulande zu spüren. Nach den USA und China ist Deutschland der drittgrößte Medtech-Produzent der Welt, die hier gefertigten Produkte decken rund zehn Prozent des globalen Marktes ab, der auf etwa 320 Mrd. US-Dollar geschätzt wird. Die Medizintechnik-Hersteller in Deutschland haben 2017 einen Gesamtumsatz von 29,9 Mrd. EUR erzielt, wie der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (Zvei) mitteilte. Dies bedeutet ein Plus von 700 Mio. EUR gegenüber 2016. Seit dem Jahr 2009 hat die Branche Ihren Umsatz um rund 50 Prozent gesteigert. In diesem Zeitraum legten die Exporte (2017: 19 Mrd. EUR) in etwa gleich stark zu wie das Inlandgeschäft (2017: 11 Mrd. EUR). Die Exportquote von 64 Prozent beweist, dass die hier ansässigen Hersteller maßgeblich auf dem Weltmarkt mitmischen. Im Welthandel mit medizinischen Produkten rangiert Deutschland gemäß dem Bundesverband BV Med auf Platz Zwei hinter den USA. Die größten Zielregionen für Medtech-Exporte aus Deutschland waren im Jahr 2016 die EU-Länder mit einem Anteil von 42 Prozent vor Nordamerika mit 19 Prozent und Asien mit 18,6 Prozent, wobei China hier den weitaus größten Markt darstellte.

Deutschland mit an der Spitze

Gemessen an den Unternehmensumsätzen wird der Weltmarkt angeführt von den US-amerikanischen Schwergewichten Medtronic, Johnson & Johnson und GE Healthcare. Aber auch deutsche Unternehmen spielen gewichtige Rollen im globalen Medtech-Konzert. So etwa Fresenius Healthcare. Der Weltmarktführer im Bereich Dialyse-Technik steigerte 2017 seinen Umsatz um 7 Prozent auf 17,8 Mrd. EUR. Siemens Healthliners, vornehmlich in der diagnostischen Bildgebung unterwegs, setzte im vergangenen Jahr 13,8 Mrd. EUR um, zwei Prozent mehr als im Vorjahr. Im Frühjahr 1918 hat der Siemens-Konzern seinen Medtech-Bereich erfolgreich als eigenständiges Unternehmen an die Börse gebracht. Healthliners hat nun einen Börsenwert von 28 Mrd. EUR, und die 15 Prozent in Streubesitz überführten Anteile spülten dem Mutterkonzern 4,2 Mrd. EUR in die Kasse. Der größte medizintechnische Kunststoffverarbeiter in Deutschland dürfte B. Braun, Melsungen, sein. Das weltweit tätige Unternehmen, das ein breites Spektrum an medizinischen Produkten vom Gelenkersatz über Infusionssysteme bis hin zu chirurgischen Instrumenten und Hilfsmittel zur Wundheilung abdeckt, steigerte 2017 seine Erlöse um fünf Prozent auf 6,8 Mrd. EUR.

Neben den genannten Großunternehmen geben in Deutschland aber viele „Kleine“ den Ton an. Gemäß BV Med beschäftigen 92 Prozent der Medtech-Unternehmen in Deutschland weniger als 250 Mitarbeiter. Alle 12.500 Unternehmen zusammen stellen 210.000 Arbeitsplätze zur Verfügung. Was die Branche vor allem auszeichnet, ist ihre Innovationskraft: Durchschnittlich neun Prozent investieren die Firmen regelmäßig in Forschungsprojekte und die Entwicklung neuer Produkte.

MDR bereitet Sorgen

„Der Hightech-Charakter der meisten Anwendungen verschafft unseren Herstellern Wettbewerbsvorteile, die erfreulicherweise in ein Bekenntnis zu noch mehr Beschäftigung in Deutschland münden“, stellt Jörg Mayer, Geschäftsführer des Industrieverbandes Spectaris fest. Euphorie will bei den Medtech-Unternehmen in Deutschland derzeit dennoch nicht aufkommen. Das   Umsatzwachstum von 2,5 Prozent bleibe hinter den Erwartungen zurück, konstatiert der Verband. Namentlich die Exporte in die wichtigen Märkte USA, China, Frankreich, Italien und Großbritannien haben sich abgeschwächt. Die Gründe dafür ortet Spectaris vor allem in politischen Entwicklungen und regulatorischen Hürden. So mache es China mit neuen Zulassungs- und Registrierungsanforderungen sowie Absatzregulierungen den deutschen Unternehmen schwer. In den USA hätte die Tendenz zur Abschaffung von Obamacare und der America-First-Ansatz von Präsident Donald Trump zu einer Verunsicherung geführt. Das Geschäft mit Großbritannien schließlich werde durch den bevorstehenden Brexit getrübt. „Man kann an den Zahlen erkennen, wie protektionistische Maßnahmen und ihre Ankündigung schon Wirkung entfalten“, sagt Jörg Mayer. Für die kommenden Jahre befürchten die Branchenvertreter, dass sich die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) als Wachstumsbremse erweisen wird. Die MDR ist im Mai 2017 in Kraft getreten und soll laut EU-Kommission eigentlich dazu dienen, den Marktzugang für Medizinprodukte zu harmonisieren und zu vereinfachen. Die Verordnung gilt aber nicht nur für zukünftige Entwicklungen, sondern de facto müssen die Hersteller alle bereits zugelassenen Produkte nach einer Übergangsfrist von drei Jahren erneut – nach dem höheren MDR-Standard – zertifizieren lassen. Insofern erinnert das Szenario stark an die EU-Chemikalien-Verordnung REACH, die auch die Hersteller von Kunststoffadditiven seit Jahren auf Trab hält. Als wesentliches Hindernis im MDR-Prozess erweist sich offenbar ein Engpass bei den „benannten Stellen“, die für die Zertifizierung zuständig sind. In Deutschland sind dies beispielsweise der TÜV Süd oder die Dekra. Laut Spectaris ist die Zahl der benannten Stellen für Medizinprodukte in der EU von ehemals 90 auf nur noch 59 geschrumpft, was schon heute zu Kapazitätsproblemen und langen Wartezeiten für zertifizierungswillige Unternehmen führe. Die Zahl der benannten Stellen könnte – so die Befürchtung − weiter auf rund 40 schrumpfen, weil durch die MDR weitere Hürden für deren Benennung aufgebaut werden. Der Industrieverband hält es daher für „sehr unwahrscheinlich“, dass mit Geltungsbeginn der EU-Medizinprodukte-Verordnung am 26. Mai 2020 ausreichend Zertifizierungsstellen zur Verfügung stehen werden. „Sollte sich die Lage in den nächsten Jahren weiter zuspitzen, werden Hersteller ihre Produkte nicht mehr vermarkten können, wirtschaftliche Einbußen hinnehmen oder unter Umständen sogar ihre Geschäftstätigkeit einstellen müssen“, sagt Dr. Leonhard, Vorsitzender des Spectaris-Fachverbandes Medizintechnik. „Dies hätte zur Folge, dass Arbeitsplätze verschwinden, Innovationen nicht mehr in den Markt gelangen und Produkte nicht beim Patienten ankommen, in vielen Punkten das Gegenteil dessen, was die Intention des Gesetzgebers war.“

Kunststoffe als Werkstoff der Wahl

Von den Ereignissen an der regulatorischen Front sind als wichtiger Teil der Wertschöpfungskette natürlich auch die Hersteller und Verarbeiter von Kunststoffen betroffen. Außer Frage aber steht, dass Kunststoffe als Werkstoff der Wahl in Medizinprodukten weiter auf dem Vormarsch sind. Unübertreffbare Vorteile der Kunststoffe sind zum Beispiel ihre Verarbeitbarkeit zu vielfältigen Geometrien, ihre mechanische und thermische Beständigkeit sowie ihre hohe Resistenz gegenüber Chemikalien, Reinigungsmitteln und Strahlung, was sie sehr gut sterilisierbar macht. Zur medizintechnischen Anwendung kommen quasi alle Standard- und  viele technische Kunststoffe wie etwa PMMA, PEEK (etwa für Zahnersatz), PPSU, PA 12 aber auch TPU und TPE. Je näher das Produkt an den Körper heranrückt beziehungsweise darin eindringt, desto wichtiger wird die Biokompatibilität der Werkstoffe. Auch diesbezüglich bieten Kunststoffe exzellente Voraussetzungen. Ein immer breiteres Anwendungsfeld finden zudem Silikone in der Medizintechnik, etwa in der Wundversorgung, wo beispielsweise Pflaster mit adhäsiven Silikonschichten die Wunde sauber halten, ohne mit ihr zu verkleben. Auch antibakteriell wirkende Kunststoffe, die ihre mikrobenzerstörende Fähigkeiten durch die Addition von Metallsalzen oder Silberionen erhalten, kommen im klinischen Bereich zum Einsatz.

Bereits medizinischer Alltag und dennoch ein Segment mit reichlich Innovationspotenzial sind bioresorbierbare Polymere. Medikamentenkapseln aus amorphen Polylaktiden oder Milchsäure-Glykol-Coploymeren etwa gewährleisten die kontrollierte (zeitlich gestaffelte) Freisetzung der Wirkstoffe im Darm. Auch Platten und Schrauben für die Osteosynthese, Stützstrukturen für den Knochenaufbau und neuerdings sogar Stents können aus bioresorbierbaren Kunststoffen gefertigt werden. Die Materialien lösen sich sozusagen auf, sobald sie ihre „Pflicht“ im Körper „erfüllt“ haben.

Potenziale und Grenzen des 3D-Drucks

Bei rund 60 Prozent aller Medzinprodukte (gemessen am Umsatzwert) handelt es sich um Einweg-Artikel, wie etwa Spritzen, Infusionsbestecke, Instrumente oder funktionale Verpackungen. Schon allein deshalb werden das Spritzgießen und das Mikrospritzgießen als präzise und flexible Massenfertigungs-Verfahren in diesem Bereich weiterhin den Ton angeben. Zwar nicht als Ersatz für Spritzgießen und Extrusion aber doch als wichtige Ergänzung erobert sich zudem die additive Fertigung zunehmend interessante Nischen in der Medizintechnik. Als Produktionsverfahren spielt der 3D-Druck dort seine Vorteile aus, wo individualisierte Produkte in Kleinstserien oder Losgröße Eins gefertigt werden. „Das Dentallabor der Zukunft wird im Aussehen dem eines 3D-Druck-Dienstleisters ähneln“, veranschaulicht dazu Dr. Markus Schönberger, Entwicklungsleiter bei Frank Plastic, Waldachtal, in einem Whitepaper. Potenziale für generative Verfahren sieht der Experte zudem in der Produktentwicklung. Bereits heute praktikabel seien 3D-gedruckte Funktions- und Designprototypen, sowie 3D-gedruckte Werkzeugeinsätze im Rahmen des Rapid-Tooling. Auf (noch) unüberwindbare Barrieren stoßen generative Verfahren aber im Zulassungsverfahren: „Zum heutigen Zeitpunkt ist es nicht möglich, mit 3D-gedruckten Kunststoffbauteilen eine Marktzulassung (…) von Medizinprodukten durchzuführen, die in der Serie mit urformenden Verfahren hergestellt werden sollen“, schreibt Schönberger. Um hier einen Durchbruch zu schaffen, müssten zum einen tragfähige Übertragungsmodelle vom 3D-gedruckten Bauteil zum spritzgegossenen oder extrudierten Serienbauteil entwickelt werden. Zum anderen bedarf es laut Schönberger einer „Bereitschaft der Zulassungsbehörden und/oder benannten Stellen, neue innovative Wege zu akzeptieren.“ Eine Entwicklung, auf die man auch angesichts der sich abzeichnenden Unterkapazitäten bei den benannten Stellen gespannt sein darf.

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