Die auf den ersten Blick unscheinbaren hellgrauen Röhrchen haben es in sich. Sie umschließen eine empfindliche Mechanik, die in Kücheneinrichtungen dafür sorgt, dass die Schubladen leise und behutsam schließen, unabhängig davon, wie stark der Schubs ist, der ihnen verpasst wird. Hochwertige Scharnier-, Auszug- und Klappensysteme für die Möbelbranche sind die Spezialität von Blum mit Stammsitz in Höchst in Österreich. Um in der Spritzgießproduktion sehr hohe Präzision mit Effizienz zu vereinen, halten innovative Technologien in den weltweiten Produktionswerken des Beschlägeherstellers besonders früh Einzug.
„Wir wollen immer State-of-the-art sein“, verrät Philipp Schlattinger, bei Blum in der Fertigung für Kunststofftechnologien verantwortlich. „Das ist die Voraussetzung, um im hart umkämpften Möbelmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Im Werk Fußach im österreichischen Vorarlberg werden die anspruchsvollen Dämpfungszylindergehäuse neben vielen weiteren technischen Präzisionsteilen für die Beschlagsysteme im Spritzgießverfahren produziert – auf holmlosen Spritzgießmaschinen von Engel, Schwertberg, Österreich. Blum gehörte vor 30 Jahren zu den ersten Anwendern der Holmlostechnik und verfolgt auch bei der Digitalisierung der Produktionsprozesse die Innovationen seines oberösterreichischen Maschinenbauerpartners genau. Vor zwei Jahren wurde in eine erste Produktionsanlage mit iQ Flow Control investiert, inklusive Temperiergeräte vom Typ E‑Temp, die zu dieser Zeit in der Nullserie liefen.
Mit sehr hohen Durchsätzen im Dauerlauf sind die Dämpfungszylinder aus POM ein optimales Testterrain. „Wir waren quasi auf der grünen Wiese unterwegs“, berichtet Martin Sailer, Konstrukteur für Spritzgießwerkzeuge bei Blum. „Da die Fertigungszelle ausschließlich für das Zylinderwerkzeug genutzt wird, konnten wir für die Temperierung das Optimum herausholen.“ Für das hochkavitätige Werkzeug ist die holmlose E-Victory 220 Spritzgießmaschine mit vier elektronischen Temperierwasserverteilern vom Typ E‑Flomo und vier Temperiergeräten aus der E-Temp Serie des Maschinenbauers ausgerüstet. „Für die Kavitäten und Formplatten kommt in Summe eine Vielzahl an Temperierkreisen zusammen, das ist schon sehr komplex“, sagt Sailer. Zu Beginn waren die Projektverantwortlichen skeptisch, ob die empfohlenen vier Temperiergeräte auch tatsächlich ausreichen. Heute sind es genau diese Einsparungen, weshalb iQ Flow Control auch für weitere Produkte Einzug hält und in immer mehr Bereichen zum Unternehmensstandard wird.
„Für die Kavitäten und Formplatten kommt in Summe eine Vielzahl an Temperierkreisen zusammen, das ist schon sehr komplex“, sagt Martin Sailer, Konstrukteur für Spritzgießwerkzeuge bei Blum.
Höchste Maßhaltigkeit ohne Ausschuss
„Wir wissen, dass wir sehr gute Werkzeuge haben, aber was in den Temperierkanälen passiert, war früher nicht transparent“, nennt Schlattinger die ursprüngliche Motivation, sich mit der Engel Temperiertechnologie zu befassen. „Bei Fehlern ist die Ursachensuche extrem schwierig, wenn man es mit einer Blackbox zu tun hat.“
Vor mehr als zehn Jahren startete der Spritzgießmaschinenhersteller mit der Mission, Licht ins Dunkel der Werkzeugtemperierung zu bringen. „20 Prozent aller Ausschussteile in der Spritzgießindustrie entstehen durch Temperierfehler“, nennt Klaus Tänzler, Produktmanager Temperierung bei Engel, den Grund, der zu dieser strategischen Entscheidung führte. Heute liefert das Unternehmen aus einer Hand integrierte Lösungen für die intelligente Steuerung von Temperierprozessen. Basis ist jeweils der elektronische Temperierwasserverteiler E-Flomo. Anhand der vom Verteiler ermittelten Messwerte passt iQ Flow Control den Temperierprozess dynamisch und selbstständig an und hält so die Prozessbedingungen konstant. Die Software aus dem Inject 4.0 Programm des Unternehmens regelt wahlweise die Durchflussmengen oder die Temperaturdifferenzen in allen Einzelkreisen aktiv aus. Beim Einsatz von E-Temp Temperiergeräten vermag iQ Flow Control darüber hinaus die Pumpendrehzahl in den Temperiergeräten an den tatsächlichen Bedarf anzupassen. Dieses Zusammenspiel vereint Temperierkonstanz mit einer sehr hohen Produktivität und Energieeffizienz.
„Im klassischen Temperierprozess ist der Durchfluss statisch“, erklärt Tänzler. „Ändert sich in einem Temperierkanal etwas, zieht das Änderungen in den anderen Kanälen nach sich und es kommt zu einer ungleichmäßigen Wasser- und Temperaturverteilung. Unser dynamisches System dagegen regelt jeden Verteilerkreis einzeln. So bleiben auch bei Schwankungen im System die thermischen Verhältnisse im Werkzeug konstant.“
Kritisch in der Produktion der Dämpfungszylindergehäuse ist die Festigkeit. Mit ihren Maßen – sehr lang und dünnwandig – gehören die Zylinder zu den besonders anspruchsvollen Spritzgießteilen im Blum-Portfolio. Hinzu kommen die materialspezifischen Herausforderungen, denn die Schwindung ist bei POM besonders groß. „Mit der konstanten Temperierung können wir die Schwindung jetzt sehr gut kontrollieren“, sagt Christian Ackerl, Produktionstechniker bei Blum. Die Toleranzen liegen in einigen Bauteilbereichen im Hundertstel-Millimeter-Bereich, denn die Maßhaltigkeit ist entscheidend für die Funktionalität und Langlebigkeit der Blum-Produkte. Die Blum-Garantie gilt über die gesamte Lebensdauer der Küche, die mit 20 Jahren kalkuliert wird.
Umschalten auf Temperaturdifferenzregelung
Entsprechend der Bauteilmaße haben die Kühlkanäle in den langen Werkzeugkernen sehr kleine Durchmesser, die schon durch feine Partikel im Kühlwasser verstopfen können. „Erst E-Flomo liefert uns die Daten zu erkennen, ob der Durchfluss gewährleistet ist“, sagt Sailer. So lassen sich Temperierfehler aufspüren, bevor Ausschuss produziert wird. „Alles andere ist eine Verschwendung von Energie, Rohmaterial und Zeit“, unterstreicht Patrik Johler vom Engel Vertrieb.
„Alles andere ist eine Verschwendung von Energie, Rohmaterial und Zeit“, unterstreicht Patrik Johler vom Engel Vertrieb.
Schon die Durchflussregelung überzeugte in kürzester Zeit die Projektverantwortlichen beim Kunststoffverarbeiter. Noch größer ist der Effekt beim Umschalten auf die Temperaturdifferenzregelung. Statt der Durchflussmengen hält das System hier die Rücklauftemperatur jedes einzelnen Kreises konstant. Das System holt sich nur so viel Wasser, wie dafür erforderlich ist, womit der Kühlwasser- und der Energieverbrauch noch weiter sinken.
Strom im sechsstelligen Bereich sparen
Vor der Investition in die neue Produktionsanlage wurden die Dämpfungszylindergehäuse lange Zeit in einem Werkzeug mit weniger Kavitäten produziert. Acht Temperiergeräte waren dafür im Einsatz, weshalb die Prozessverantwortlichen zunächst davon ausgingen, mit dem Scale-up auch die Zahl der Temperiergeräte erhöhen zu müssen. Das Gegenteil war der Fall. Die Fachzahl wurde erhöht, doch die Zahl der Temperiergeräte reduziert. Dies machte sich nicht nur bei der Neuinvestition positiv bemerkbar, sondern auch die laufenden Betriebskosten sind gesunken.
Die Engel Temperiergeräte sind über OPC UA in die CC300 Steuerung der Spritzgießmaschinen integriert. Auf diese Weise lässt sich die Drehzahl der Pumpen bedarfsabhängig regeln. Während herkömmliche Temperiergeräte durchgehend mit voller Leistung arbeiten, korreliert iQ Flow Control die Pumpenleistung mit den Ventilstellungen in den Kühlkreisläufen und passt die Pumpenleistung über die gesamte Prozessdauer an. Nicht bewässern, sondern intelligent temperieren, lautet die Devise, um nicht nur Energie zu sparen, sondern auch den Instandhaltungsaufwand zu reduzieren. Der Verschleiß nimmt rasant ab, wenn die Pumpe nicht permanent unter Volllast arbeitet. „Wenn wir über alle Spritzgießmaschinen hier am Standort rechnen, kann uns iQ Flow Control pro Jahr Strom im sechsstelligen Eurobereich einsparen“, sagt Schlattinger.
3 Fragen an Klaus Tänzler, Produktmanager Temperierung bei Engel.
Bei der Engel live e-xperience trug Ihr Vortrag den provokanten Titel „Bewässern Sie noch oder temperieren Sie schon?“ und Sie sprachen im Zusammenhang der Werkzeugtemperierung von einer großen Unbekannten. Was verbirgt sich dahinter?
Klaus Tänzler: Die große Unbekannte ist für mich der Zustand des Werkzeugs, sprich der Zustand der Temperierkanäle. Dieser wird normalerweise nicht überwacht, obwohl er einen großen Beitrag zur Qualität der produzierten Teile leistet. In den meisten Fällen ist es so, dass das Werkzeug auf die Maschine genommen wird und solange Prozessparameter verstellt werden bis Gutteile herausfallen. Das ist für mich ein Zustand, der nicht mehr zeitgemäß ist, denn 24 % aller Ausschussteile entstehen durch Temperierfehler. Hier muss angesetzt werden, um diese auszuschalten. Da reden wir noch nicht von Effizienz, sondern da reden wir einfach davon, dass ich Prozesssicherheit brauche. Die Ressourcen Zeit und Energie sind zu wertvoll, um sie zum Herstellen von Ausschuss zu nutzen.
Über die Lebenszeit des Werkzeugs verändert sich dessen Zustand, das heißt die Durchfluss-, die Druck- und die Strömungsverhältnisse in den Temperierkanälen. Wenn ein Werkzeug auf die Spritzgießmaschine aufgespannt wird, dann sollten die Kanäle frei sein und das Wasser gut durchlaufen. Theoretisch könnte der Ist-Zustand des Werkzeugs aufgenommen und abgespeichert werden, damit er in bestimmten Abständen überprüft und mit den gespeicherten Daten abgeglichen werden kann. Es geht ja nicht darum, dass die Kanäle verstopft sind, sondern es geht darum, dass sich die Wärmeableitung durch die Ablagerung in den Kanälen verändert und somit auch die ganze Temperierung der Kavitäten anders wird.
Nimmt die Werkzeugtemperierung Einfluss auf die Oberflächenqualität von Kunststoffbauteilen?
Tänzler: In jedem Fall. Eine gleichmäßige Temperaturverteilung in der Kavität ist entscheidend für die Produktion von beispielsweise hochglänzenden Oberflächen, damit keine Schattierungen entstehen und der Glanzgrad gleichmäßig ist. Die richtige Temperaturdifferenzregelung, die iQ Flow Control ermöglicht, muss einmalig erarbeitet werden. Sie ist dann bei der nächsten Produktion reproduzierbar, sodass ohne erneute ‚Versuchsreihen‘ Gutteile gefertigt werden. Die Temperaturen der einzelnen Kreise werden hinterlegt und können bei Bedarf abgefragt werden.
Wie kann der Kunststoffverarbeiter feststellen, ob ein Temperierkanal im Werkzeug ein Problem hat?
Tänzler: Mit den herkömmlichen Schaugläsern leider sehr schwierig. Auch andere statische elektronische Verteilsysteme überwachen nur eingestellte Parameter und geben jeweils lediglich einen Alarm bei Veränderungen aus. Wir haben hierfür den E-Flomo premium entwickelt. Der elektronische Temperierwasserverteiler liefert die Messwerte, die die Software iQ flow control nutzt, um den Temperierprozess dynamisch zu regeln. Dieses System ermöglicht, eine voreingestellte Temperaturdifferenz zwischen Vor und Rücklauf in jedem Werkzeugkreis stabil zu halten. Dies wird dadurch erreicht, dass nur so viel Wasser in den jeweiligen Kreis eingeleitet wird, damit die eingestellte Temperaturdifferenz immer gleich bleibt. Prozessschwankungen werden also automatisch ausgeglichen. Hat der Kunststoffverarbeiter 20 Kreise im Werkzeug und in einem Kreis ein Problem, wie beispielsweise einen schwankenden Durchfluss, der in den meisten Fällen durch Schmutz verursacht wird, dann kann er mit dem System erkennen, um welchen Kreis es sich handelt.
Im Zusammenhang mit einer Verbesserung des Umgangs mit Spritzgusswerkzeugen wurde die sequenzielle Ausblasfunktion entwickelt. Sie sorgt für schnelle Werkzeugwechsel und bläst vollautomatisch jeden Werkzeugkreis aus. Beim Aufspannen eines neuen Werkzeuges werden die Kreise mit Wasser befüllt und somit entlüftet. Das sorgt für einen schnelleren Produktionsstart, weil das Temperiergerät die zeitaufwendige Entlüftung des Werkzeuges nicht mehr leisten muss.
Ein anderer Punkt ist, verbleibt der Schmutz im Werkzeug, so wird er erneut ins und übers Temperiergerät in den Kanälen verteilt. Deshalb ist es wichtig, an einer Stelle das Verteilen des Schmutzes zu unterbrechen. Dies ist mit unserer sequentiellen Ausblasvorrichtung sehr gut möglich.