Zwei weiße Kunststoffteile.

Bei konstantem Einspritzvolumenstrom resultieren eine Druckspitze sowie der Dieseleffekt am Fließwegende (links), welcher sich durch eine Einspritzprofilierung vermeiden lässt (rechts). (Bild: IKV)

In der Einspritzphase werden über den Maschineneinstellparameter Schneckenvorlaufgeschwindigkeit die lokalen Prozessgrößen Scherrate, Druck und Temperatur in der Kavität maßgeblich beeinflusst. Dadurch werden während der Einspritzphase die Orientierungen, insbesondere in der Randschicht, die Eigenspannungen sowie die Morphologie und in der Folge die makroskopischen Eigenschaften, wie die Oberflächenqualität, definiert [1–5]. Die Einstellung einer geeigneten Schneckenvorlaufgeschwindigkeit an der Spritzgießmaschine wird vor allem durch zwei Faktoren erschwert. Zum einen erfordert die Bauteilgeometrie aufgrund von Querschnittsveränderungen ein Anpassen der Schneckenvorlaufgeschwindigkeit während der Einspritzzeit, um zu niedrige oder zu hohe Fließfrontgeschwindigkeiten in der Kavität zu vermeiden. Zum anderen fließt der Volumenstrom, welcher von der Schnecke verdrängt wird, aufgrund von Leckströmen an der Rückstrom-sperre und der Schmelzekompression im Schneckenvorraum nicht in gleicher Menge in die Kavität [6–9]. Der Einsatz von Simulationssoftware und eines Prozessmodells des Schneckenvorraums berechnet innerhalb kurzer Zeit ein geeignetes Einspritzgeschwindigkeitsprofil, sodass die iterative Prozesseinrichtung an der Maschine vermieden wird und das Risiko von Bauteilfehlern sinkt.

Zeichnung.
Bild 1: Als Probekörper wird eine Platte mit vier Dickensprüngen verwendet. (Bild: IKV)

Wie der Prozess konventionell eingerichtet wird

Beim Einspritzen der Schmelze in die Kavität bildet sich eine Quellströmung um den Anspritzpunkt aus. In Tangentialrichtung werden die Moleküle gedehnt, während sie in Radialrichtung geschert werden. Das Fließfrontgeschwindigkeitsprofil über der Dicke bestimmt direkt die Scherrate, wodurch in Kombination mit dem strukturviskosen Verhalten der thermoplastischen Schmelze die Viskosität und folglich der Druckverlust entlang des Fließwegs beeinflusst werden. Durch die resultierende Dissipation beeinflusst die Fließfrontgeschwindigkeit zudem maßgeblich den Temperaturverlauf der Schmelze, der wiederum Einfluss auf die Viskosität nimmt. Durch die direkte Einflussnahme auf die mikroskopischen Bauteileigenschaften bestimmt die Fließfrontgeschwindigkeit somit die Oberflächenqualität, wie die Abformung der Oberflächenstruktur, sowie die optischen und mechanischen Bauteileigenschaften [1–5, 10]. Um Fehler bei der Bauteilfüllung zu vermeiden, gibt es generelle Empfehlungen für die Einspritzphase.

Diagramm mit Darstellung von Anguss, Dünnstellen und Füllende.
Bild 2: In der Simulation variiert die bei konstantem Einspritzvolumenstrom resultierende Fließfrontgeschwindigkeit nicht nur im Bereich der Dickensprünge stark. Die berechnete Fließfrontfläche gibt Aufschluss über das Füllverhalten der Kavität. (Bild: IKV)

Während zum Vermeiden einer zu starken Abkühlung der Schmelze im Angusssystem und Bauteil hohe Fließfrontgeschwindigkeiten angestrebt werden, sollte in Bereichen dünner Querschnitte und gegen Fließweg-ende die Fließfrontgeschwindigkeit reduziert werden, um zu hohe Scherraten und Druckspitzen am Füllende zu vermeiden [4,11]. Zum Erreichen gleichmäßiger Eigenschaften entlang des Fließwegs wird in der Literatur eine konstante Fließfrontgeschwindigkeit entlang des Fließwegs empfohlen, welche bei gleichmäßiger Wanddicke in einer konstanten mittleren Scherrate über der Bauteildicke resultiert [1,3,4,12–15]. Bei komplexen Bauteilen ist das Einhalten dieser Empfehlungen bei der manuellen Prozesseinrichtung herausfordernd.

Fließfrontfläche als Fingerabdruck des Bauteils

Um in wenigen Schritten ein geeignetes Einspritzvolumenstromprofil in Abhängigkeit der Bauteilgeometrie abzuleiten, wird auf die Simulation zurückgegriffen [16]. Als Probekörper dient eine Platte mit Dickensprüngen (Bild 1). Zuerst wird simulativ die mittlere Fließfrontgeschwindigkeit über dem Füllstand ermittelt, welche sich bei einem konstanten Einspritzvolumenstrom von 35 cm³/s ergibt (Bild 2, schwarze Kurve). Diese wird aus dem Mittel der Fließfrontgeschwindigkeiten an den Knoten berechnet, die zu diesem Füllstand Teil der Fließfront sind (Bild 2, grüne Kurve). Im Stangenanguss, welcher bei einem Füllstand von 3 % gefüllt ist, treten sehr hohe Fließfrontgeschwindigkeiten auf. Erwartungsgemäß variiert die Fließfrontgeschwindigkeit aufgrund der Dickensprünge entlang des Fließwegs. Unter Annahme einer inkompressiblen Schmelze kann aus dem Quotienten des Volumenstroms und der mittleren Fließfrontgeschwindigkeit die Fließfrontfläche über dem Füllstand berechnet werden. Durch diese Annahme wird jedoch eine zu große Fließfrontfläche berechnet, da der in die Kavität eingespritzte Volumenstrom nicht in gleicher Menge an der Fließfront ankommt. Wichtig ist die Änderung der Fließfrontfläche über dem Füllstand beispielsweise bei Dickensprüngen, welche durch die Änderung der Fließfrontgeschwindigkeit über dem Füllstand berücksichtigt wird.

Grafik und farbige Darstellung.
Bild 3: Durch die Profilierung des Einspritzprofils (links) kann eine gleichmäßige Fließfrontgeschwindigkeit entlang des Fließwegs erreicht werden (rechts). (Bild: IKV)

Die so ermittelte Fließfrontfläche lässt wichtige Rückschlüsse auf die Füllung des Bauteils zu (siehe Bild|2, blaue Kurve). Ab einem Füllstand von 32 % trifft ein Teil der Fließfront auf die erste Dünnstelle, weshalb die Fläche dort abnimmt. Aufgrund der Quellströmung befindet sich die Fließfront erst ab einem Füllstand von 38 % vollständig im Bereich der Dünnstelle. Da die Fließfront das Fließwegende nicht zum gleichen Zeitpunkt erreicht, nimmt die Fläche am Ende rapide ab, wodurch die Fließfrontgeschwindigkeit stark ansteigt. Dies zeigt, dass selbst bei einfachen Geometrien ein Anstieg der Fließfrontgeschwindigkeit bei konstantem Einspritzvolumenstrom am Fließwegende stattfindet und das Risiko von Druckspitzen sowie Bauteildefekten, wie dem Dieseleffekt oder Gratbildung, erhöht. Die Fließfrontfläche ermöglicht im Weiteren das automatische Ableiten eines Einspritzprofils. Unter Vorgabe verschiedener Randbedingungen – Anzahl der Profilstufen, Beginn der Profilierung, Einspritzzeit – berechnet eine Optimierungsroutine, die mit der Software Matlab, Mathworks, Nattick, USA, implementiert wurde, das Einspritzprofil [16]. Wird eine konstante Fließfrontgeschwindigkeit angestrebt, so ist der Volumenstrom proportional zur Fließfrontfläche. Im Falle einer konstanten mittleren Fließfrontscherrate ist der Volumenstrom proportional zum Produkt aus Fläche und Dicke. Zum Vermeiden einer Profilierung im Angussverteiler wird mit der Profilierung ab einer Kavitätsfüllung von 20 % begonnen (Bild 3). Es werden 10 Profilstufen bei einer gesamten Einspritzzeit von 1,1 s vorgegeben.

Wie die Simulation auf die Spritzgießmaschine übertragen wird

Aus der Simulation ist der Volumenstrom V̇Werkzeug bekannt, der zu einem bestimmten Zeitpunkt der Einspritzphase in die Kavität fließen soll. Aufgrund der Leckage über die Rückstromsperre (RSP), insbesondere während des Schließvorgangs, der Schmelzekompression im Schneckenvorraum, der Maschinendynamik sowie der Deformation von Werkzeug und Maschine weicht der in die Kavität fließende von dem an der Maschine eingestellten Volumenstrom V̇Schnecke ab. Deshalb wird im weiteren Schritt ein Prozessmodell verwendet, welches den Schließvorgang der Rückstromsperre sowie die Schmelzekompression für das Volumenübertragungsverhalten berücksichtigt:

Schnecke = V̇Werkzeug + V̇Kompression + V̇Leckage , RSP

Der zusätzlich aufzubringende Volumenstrom aufgrund der Schmelzekompression V̇Kompression wird im Prozessmodell in Abhängigkeit des Schmelzevolumens und Drucks auf Basis der pvT-Daten des Materials berechnet. Für die Berechnung des Schließverhaltens wird ein Ansatz aus der Literatur verwendet, welcher den Schließvorgang anhand eines Kräftegleichgewichts des Sperrrings analytisch berechnet [17–18]. In Bild 4 ist der Einspritzdruck sowie der Einspritzvolumenstrom über das Schneckenvolumen dargestellt, welches bei 53 cm³ startet (Dosiervolumen: 48 cm³; Dekompression: 5 cm³). Auf Basis der Simulation ist ein Einspritzvolumen von 39,5 cm³ notwendig, sodass ein Umschaltpunkt von 13,5 cm³ resultiert (Bild 4, grüne Kurve). Das Prozessmodell berechnet den Druckverlust in der Düse, welcher zusammen mit dem simulativ ermittelten Einspritzdruck den Schneckenvorraumdruck ergibt (Bild 4, hellblaue Kurve gestrichelt). Das berechnete Volumen bis zum Schließen der Rückstromsperre liegt bei 0,4 cm³, sodass die Volumenstromübertragung in die Kavität gemäß Modell bei 52,6 cm³ startet. Aufgrund der Volumenstromverluste durch die Kompres-sion, welche insbesondere zu Beginn des Einspritzens wegen des stark ansteigenden Drucks sowie der bei geringen Drücken höheren Kompressibilität groß ist, berechnet das Prozessmodell einen erhöhten Einspritz-volumenstrom sowie eine notwendige Reduktion des Umschaltvolumens (Bild 4, hellblaue Kurve).

Grafik Einspritzdruck.
Bild 4: Durch die Verwendung des Prozessmodells und das Hinzuziehen der gemessenen Druckkurve beim Einspritzen kann das Einspritzvolumenstromprofil an die Maschine angepasst werden. (Bild: IKV)

Bei einer Versuchsdurchführung mit Einstellung dieses Profils an der Spritzgießmaschine gibt die gemessene Druckkurve (Bild 4, schwarze Kurve gestrichelt) Aufschluss über den Schließzeitpunkt der Rückstromsperre bei 51,1 cm³, welcher als Knick in der Druckkurve erkennbar ist [6,8–9]. Durch Berücksichtigen des tatsächlichen Schließzeitpunkts sowie der Neuberechnung der Kompression auf Basis der gemessenen Druckkurve kann ein genaueres Einspritzvolumenstromprofil berechnet werden (Bild 4, schwarze Kurve), welches einen Umschaltpunkt von 10,9 cm³ berechnet und damit ein um 6,6 % höheres Einspritzvolumens im Vergleich zur Simulation ergibt. Durch das Durchführen von Teilfüllungen zu den jeweiligen Profilschritten kann der simulierte mit dem tatsächlichen Fließfrontfortschritt verglichen werden. Dieser fällt beim Einstellen des auf Basis des Prozessmodells berechneten Einspritzvolumenstromprofils aufgrund des zu gering berechneten Volumens bis zum Schließen der Rückstromsperre über den gesamten Fließweg zu gering aus (Bild 5, grüne Kurve). Wird die gemessene Druckkurve berücksichtigt, so stimmt der Fließfrontfortschritt zwischen Simulation und Realität gut überein (Bild 5, Kurve). In weiteren Arbeiten soll der Einfluss der Einspritzprofilierung auf die Bauteilqualität komplexer Bauteile analysiert werden.

Grafik Füllstand.
Bild 5: Durch die Berücksichtigung der gemessenen Druckkurve im Prozessmodell kann eine gute Übereinstimmung zwischen dem Soll-Füllstand gemäß Simulation und dem tatsächlichen Füllstand aus den Spritzgießversuchen erzielt werden. (Bild: IKV)

Dank

Das IGF-Forschungsvorhaben 20935 N der Forschungsvereinigung Kunststoffverarbeitung wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung und -entwicklung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Allen Institutionen und Partnern gilt unser Dank.

 

Literatur


[1] Leibfried, D.: Untersuchung zum Werkzeugfüllvorgang beim Spritzgießen von thermoplastischen Kunststoffen. Dissertation, RWTH Aachen 1971

[2] Cox, H.W.; Mentzer, C.C.: The effect of fill time on properties. Polymer Engineering & Science 26 (1986) 7, S. 488-498

[3] Lauterbach, M.: Optimierung der Einspritzphase beim Spritzgießprozess durch automatisches Anpassen des Schneckenvorlaufgeschwindigkeitsprofils. Diplomarbeit, RWTH Aachen 1985

[4] Gruber, J.-M..: Prozessführung beim Thermoplastspritzgießen auf Basis des Werkzeuginnendrucks. Dissertation, RWTH Aachen 2005

[5] Boldizar, A.; Kubat, J.; Rigdahl, M.: Influence of mold filling rate and gate geometry on the modulus of high pressure injection-molded polyethylene. Journal of Applied Polymer Science 39 (1990) 1, S. 63-71

[6] Bourdon, K.: Rechnerunterstützte Einstellung von Spritzgießmaschinen. RWTH Aachen, Dissertation, 1989

[7] Groleau, M.; Groleau, R.: Factors Affecting Shot Size Variation in Injection Molding Processes. SPE Technical Papers 46 (2000) 1, S. 658–662.

[8] Eben, J.: Identifikation und Reduzierung realer Schwankungen durch praxistaugliche Prozessführungsmethoden beim Spritzgießen. Technische Universität Chemnitz, Dissertation, 2014

[9] Schiffers, R.: Verbesserung der Prozessfähigkeit beim Spritzgießen durch Nutzung von Prozessdaten und eine neuartige Schneckenhubführung. Universität Duisburg-Essen, Dissertation, 2009

[10] Kennedy, P.; Zheng, R.: Flow Analysis of Injection Molds. Carl Hanser Verlag, München, 2013

[11] Bichler, M.: Prozessgrößen beim Spritzgießen. Beuth Verlag, Berlin, Wien, Zürich 2012

[12] Thienel, P.: Der Formfüllvorgang beim Spritzgießen von Thermoplasten. Dissertation, RWTH Aachen 1977

[13] Yang, Y.; Chen, X.; Lu, N.; Gao, F.: Injection Molding Process Control, Monitoring, and Optimization. Carl Hanser Verlag, München, Wien 2016

[14] Speight, R.G.; Monro, A.J.; Khassapov, A.: Benefits of velocity phase profiling for injection molding. SPE Annual Technical Conference Paper, Atlanta 1998

[15] Chen, X.; Zhang, L.; Kong, X.; Gao, F.: Automatic velocity profile determination for uniform filling in injection molding. Polymer Engineering & Science 50 (2010) 7, S. 1358-1371

[16] Hopmann, C.; Köbel, T.; Hornberg, K.: Optimal Einspritzen – aber wie?. Kunststoffe 111 (2021) 8, S. 42-45

[17] Thümen, T.: Analyse der Rückstromsperre für den Spritzgießprozess. Universität Parderborn, Dissertation, 2009

[18] Gornik, C.; Bleier, H.; Roth, W.: Arbeit an der Spitze - Das Schließverhalten von Rückstromsperren. Kunststoffe 91 (2001) 6, S. 72–74.

Quelle: IKV

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