Herr Becker, Sie haben eine nachhaltige Büroarbeitsplatzleuchte entwickelt. Was war Ihr Antrieb, eine weitere Leuchte für diesen Einsatzzweck auf den Markt zu bringen?
Joachim Becker: Inzwischen haben wir sogar noch viel mehr geschafft. Wir haben aus unserer einzelnen Stehleuchte eine ganze Familie kreiert: Zu der Stehleuchte kamen zwischenzeitlich zwei Deckenleuchten und eine Pendelleuchte hinzu. Unsere Geschichte begann 2021 in Kairo, als ich durch die Stadt fuhr und in einem Bezirk hautnah mitbekam, dass die Menschen dort im Müll sprichwörtlich versinken – Straßen, Hofeinfahrten und Treppenhäuser lagen voller Abfall. Das hat mich geprägt, und ich habe mir nach meiner Rückkehr die Frage gestellt, wie wir es schaffen können, weniger Müll zu produzieren. Das war die Geburtsstunde von Beolum! Unternehmensziel ist es, die erste Kreislaufwirtschaft der Beleuchtungsindustrie aufzubauen. Wir verwenden nachwachsende Rohstoffe wie Flachs und Kaffeesatz sowie Holz und schaffen gleichzeitig einen Kreislauf, der alle Bestandteile der Leuchten, einschließlich der Elektronik mit ihren seltenen Erden wiederverwenden kann. Aktuell landen in Deutschland rund 950.000 t Elektroschrott im Jahr auf der Deponie. Davon stammen über 800.000 t aus den privaten Haushalten, was bedeutet, dass jeder von uns jährlich rund 10 kg Elektroschrott „entsorgt“.
Aus welchen Werkstoffen bestehen Ihre Leuchten?
Becker: Wir stellen uns bei jedem neuen Produkt die Frage der Materialität: Welches nachwachsende kreislauffähige Material ist für die Anwendung das Beste? Dabei kommt es auf verschiedene Bedürfnisse und Anforderungen an. Wir wollen langlebige und gleichzeitig natürliche Materialien verwenden. Sie dürfen dem Planeten in keinerlei Hinsicht schaden und sollten daher nachwachsend sein. Weiterhin sollten sie einfach zu verarbeiten und nach Nutzungsende kreislauffähig sein. Für uns haben drei Rohstoffe einen klaren Vorteil: Flachs, Holz und Kaffee:
- Flachs benötigt unheimlich wenig Wasser in der Wachstumsphase, viel weniger als beispielsweise Hanf und ist als eine der ältesten Nutzpflanzen Europas traditionell im Anbau.
- Holz ist, wenn es aus ökologischer, nachhaltiger Forstwirtschaft stammt, ein wunderbarer Werkstoff. Wir haben mit unseren Partnern eine Form gefunden, das Holz nicht nur biodiversitär zu erhalten, sondern wirklich materialreduziert zu verarbeiten.
- Kaffee ist den Europäern liebstes Getränk. In den allermeisten Fällen wird der Kaffeesatz allerdings einfach verbrannt, wodurch das darin gebundene CO2 wieder freigesetzt wird. Wenn wir den Kaffeesatz im Fuß unserer Leuchten verwenden, dann wird das CO2 dauerhaft gebunden und damit aktiv zu einem CO2-Speicher.
Zur Person
Joachim Becker hat Elektrotechnik studiert und jahrelang Erfahrung in der Leuchtenindustrie gesammelt. Bei Oligo surface controls verantwortete er die Forschung & Entwicklung, bei Ludwig Leuchten war er für Innovation und Produktmanagement zuständig. In dieser Zeit hat er die Vollspektrum-LEDs mit verminderter Blaulichtgefährdung bei den Büroarbeitsplatzleuchten eingeführt.
Der Leuchtenkopf besteht aus in Polymer eingebetteten Flachsfasern. Handelt es sich hierbei um ein Biopolymer, ein Rezyklat oder Neuware?
Becker: Wir verwenden für die Verbindung unserer Pflanzenfasern zurzeit ein Harz, das zu über 60 % aus Naturbestandteilen besteht und planen, diesen Anteil auf über 90 % in den nächsten Jahren zu erhöhen. Ein gewisser Prozentsatz an technischen Komponenten ist im Flachscarbon notwendig, um ein hochwertiges und langlebiges Produkt zu erzielen. Den Nutzern und der Umwelt ist nicht geholfen, wenn die eingesetzten Materialien nach wenigen Jahren in ihrer Qualität und den Eigenschaften nachlassen. Unser Ziel sind Leuchten, die auch noch nach 20 Jahren den Ansprüchen der Nutzer genügen. In unserer Philosophie ist das nachhaltigste Produkt jenes, das nicht ersetzt werden muss. Und hierzu gehört auch, dass die Leuchten im Bedarfsfall vom Elektrofachbetrieb repariert werden können.
Mit welchem Verfahren wird der Leuchtenkopf hergestellt und ist der Fertigungsprozess herausfordernd?
Becker: In einem Werkzeug werden mehrere Lagen des Naturfaserverbundstoffes übereinandergelegt und mit einem Harz getränkt. Das geschlossene Werkzeug wird evakuiert und der Verbundwerkstoff in Form gebracht und unter Wärme getrocknet.
Herausforderungen gab es. Nur ein Beispiel: Die Naturfaser ist nur bedingt formbar, das heißt, sind die Radien an den Kanten der Form zu eng, so bricht die Faser und die Stabilität des Gewebes leidet. Wir mussten uns zunächst auf das Verarbeiten der Naturmaterialien einstellen.
Ein geschlossener Werkstoffkreislauf ist das Ziel dieser neuartigen Leuchtengeneration.
Kann der Kaffeesatz mit derselben Technologie verarbeitet werden wie das Flachscomposite?
Becker: Nein, der Kaffeesatz ist völlig anders zu behandeln. Der Kaffeesatz liegt in Pulverform vor, nicht wie der Flachs als Faser. Daher ist zunächst dafür zu sorgen, dass ein stabiles Gemisch erzeugt wird. Das bekommen wir, indem der Kaffeesatz mit einem zerstäubten Harz besprüht wird. Dieses Gemisch wird in das Pressenwerkzeug eingebracht. Mit genau definiertem Druck und unter präziser Temperaturführung wird der Kaffeesatz geformt und ausgehärtet. Dieses Verfahren ermöglicht es, unterschiedliche Geometrien für den Standfuß zu erzeugen.
Strom fließt gewöhnlich durch Kabel und Schalter sorgen dafür, dass er es kann. Sind diese Komponenten in nachhaltiger Ausführung verfügbar?
Becker: Das ist ein sehr spannendes Thema, das ich vor ein paar Wochen erst mit Dr. Michael Braungart diskutiert habe. Nehmen wir beispielsweise das Kupfer, das in den meisten elektrischen Verbindungen genutzt wird. Michael Braungart ist der Überzeugung, dass wir es aus Recyclinggesichtspunkten durch Aluminium ersetzen sollten. Ich bin völlig anderer Meinung. Wir sollten versuchen, den Einsatz von Metallen grundsätzlich zu verringern. Insbesondere den von Aluminium, denn abgesehen von der Recyclingfähigkeit ist deren Abbau ein ganz entscheidender Faktor für die Umweltverträglichkeit. Deshalb versuchen wir bei der Auswahl der Werkstoffe, den Einfluss der Rohstoffgewinnung auf unseren Planeten zu minimieren. Aus diesem Grund werden die Leuchten über Sensoren und mit Bluetooth gesteuert, und es wird gänzlich auf Schalter verzichtet. Die Hersteller der Sensoren verwenden zurzeit noch einen Mix aus recyceltem und neu hergestelltem Kunststoff. Aber auch in der Branche haben sich die Produzenten auf die Reise der Nachhaltigkeit begeben, und ich bin mir sehr sicher, dass wir in kurzer Zeit die ersten wirklich kreislauffähigen Produkte sehen. Bei unseren Partnern werden die Sensoren nach dem Nutzungsende auf ihre Funktion überprüft und ihre Bestandteile im Kreislauf gehalten. Denn klares Ziel ist es, dass keine Komponente auf irgendeiner Müllhalde landet. Grundsätzlich setzen wir Sensoren anstelle von Schaltern ein. Hierdurch wird der Spruch „Der Letzte schaltet das Licht aus“ obsolet, und die Nutzer können bis zu 80 % Energie einsparen. Wie oft sehen wir in den großen Bürotürmen abends noch das Licht brennen, obwohl niemand mehr dort arbeitet? Wir Menschen sind vergesslich. Nach einem stressigen Arbeitstag vergessen wir, das Licht auszuschalten, sodass die Büros manchmal die ganze Nacht taghell erleuchtet sind. Die verwendete Sensorik misst zwei Zustände: Bewegung und Tageslicht. Das bedeutet, die Leuchten spenden nur Licht, wenn jemand am Arbeitsplatz sitzt und zusätzlich wird noch das durch die Fenster fallende Sonnen- beziehungsweise Tageslicht gemessen. Sobald die natürliche Helligkeit ausreicht, um den Arbeitsplatz normgerecht zu beleuchten, fährt die Leuchte das Licht automatisch runter. Das spart Energie, und die Nutzer müssen sich um nichts kümmern.
Wie steht es um „nachhaltige“ LEDs?
Becker: In der Elektronik und insbesondere in den LEDs werden sehr kostbare Rohstoffe wie Gold und seltene Erden eingesetzt. Technologisch ist das nicht anders möglich. Aber in unserer Philosophie gibt es keinen Müll, auch hier sehen wir die gebrauchten Komponenten als Rohstoffe für neue Produkte. So haben wir ein regionales Netzwerk aufgebaut, in dem unsere Partner in der Lage sind, aus den elektronischen Komponenten der Leuchten über 60 Rohstoffe in Form von hochreinen Pulvern zu gewinnen. Damit werden andere Branchen und Hersteller versorgt, die Rohstoffe im Kreislauf gehalten und Elektroschrott reduziert.
Welche Komponenten der Leuchte sind besonders herausfordernd für Ihr Ziel 100 % nachhaltig? Können Kunststoffe unterstützen, um dieses Ziel schneller zu erreichen?
Becker: Ganz klar, die Gehäuse sind herausfordernd. Wir haben sehr lange geforscht und noch länger getestet, um die Materialauswahl in der jetzigen Qualität zu erreichen. Das fängt bei der Stabilität und Steifigkeit an und hört bei der Oberflächengüte noch nicht auf. Das Zusammenspiel von Licht und Schatten und das Hervorheben der Webstruktur der Flachsfasern innerhalb der Leuchte war eine ganz besondere Herausforderung. Kunststoffe und Metalle spielen bei uns überall dort eine Rolle, wo sie technisch notwendig sind. Das ist einerseits bei der Kühlung der LEDs und auf der anderen Seite bei der Lichtlenkung, denn schlussendlich stellen wir Licht zur Verfügung.
Um die unterschiedlichen Werkstoffe Glas, Holz und Kunststofflaminat zu be- und verarbeiten, werden unterschiedliche Fertigungsverfahren benötigt. Wo haben Sie diese Kapazitäten aufgebaut?
Becker: Das stimmt. Wir vereinen ganz unterschiedliche Branchen und Industrien miteinander. Wir wollten aber nicht die 10.000 Produktionshalle auf der „grünen Wiese“ aufstellen, denn in Deutschland und Europa ist alles vorhanden, was ein produzierendes Unternehmen benötigt. Es musste nur intelligent miteinander verbunden werden. Wir haben es geschafft, die vielfältigen Partner zu einem Netzwerk zu vereinen, das es uns ermöglicht, in Europa und Deutschland zu fertigen und so die Transportwege kurz zuhalten.
Bisher waren Arbeitsplatzleuchten dieser Art meist aus Metall oder Aluminium. Können Sie den ökologischen Fußabdruck der bisherigen Leuchten und den der Ihrigen benennen?
Becker: Der ökologische Fußabdruck herkömmlicher Materialien wie zum Beispiel Aluminium in der Leuchtenindustrie ist vielschichtiger als nur das Betrachten der CO2-Bilanz. Aber allein dabei verursacht beispielsweise die Standleuchte Vega T fasst eine halbe Tonne CO2 weniger als eine vergleichbare Leuchte aus Metall – und das nur aufgrund ihrer Materialität. Ich finde aber, dass diese Betrachtung viel zu kurz greift: Schauen wir uns einmal die Gewinnung von Aluminium an. Dafür benötigen wir zunächst Bauxit. Das finden wir vorzugsweise in Regenwaldgebieten wie beispielsweise in Brasilien. Es müssen viele Hektar Regenwald gerodet werden, um an das Bauxit zu kommen. Dann sind aufwendige Verfahren notwendig, um daraus die Bestandteile zu lösen, aus denen dann die Produkte werden sollen. Das ist aber nicht alles, zurück bleibt giftiger Rotschlamm, bestehend aus Arsen, Quecksilber und anderen gesundheitsgefährdenden Stoffen. Wenn wir zukünftig der Natur nur das entnehmen, was sie selbst wieder herstellen kann, werden wir wieder mehr im Einklang mit ihr leben. Dafür sind Pflanzen hervorragend geeignet. Pflanzen versorgen uns mit Sauerstoff und binden gleichzeitig CO2. Das ist gewissermaßen ein doppelter Gewinn. Wir nutzen in unseren Leuchten Pflanzen wie Flachs und Kaffee nach der Ernte weiter und binden damit das aufgenommene CO2 dauerhaft in den Produkten.
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Wie sieht Ihr Konzept für das Lebensende der Leuchte aus?
Becker: Wir betrachten die Leuchten ganzheitlich von der Ernte der Rohstoffe bis zum Wiederverwerten der Komponenten. Erst wenn wir es geschafft haben, die genutzten Materialien, Rohstoffe und Komponenten als Grundlage für neue Produkte zu etablieren, werden wir wirklich nachhaltig eine Veränderung erreichen. Ein Beispiel: Aus den Netzteilen entstehen hochreine Metallpulver, die beispielsweise für Minen in Kugelschreibern eingesetzt werden können. So bleiben die Rohstoffe der genutzten Leuchten im Wertstoffkreislauf und können weiter in der Leuchtenindustrie oder wie oben beschrieben auch in anderen Branchen eingesetzt werden.
Was sind die nächsten Meilensteine Ihres noch jungen Unternehmens?
Becker: 2023 war aufregend, und 2024 wird noch spannender! Wir sind immer noch am Anfang unserer Reise, noch lange nicht perfekt und noch nicht da angekommen, wo wir hinwollen. Verschiedene größere und kleinere Projekte sind in Bearbeitung und erweitern permanent unser Netzwerk. Aber: One more thing! Im ersten Halbjahr launchen wir die zweite Leuchtenserie – aus Kaffeesatz.
Quelle: Beolum
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