Zugstab mit Bruchdehnung im Vergleich zu einem Sprödbruch

Bild 1a: Der bei einer Werkzeugtemperatur von 30 °C (oben) hergestellte Zugstab bricht nach einer Einschnürung bei höherer Bruchdehnung im Vergleich zum Sprödbruch des bei einer Werkzeugtemperatur von 110 °C (unten) hergestellten Zugstabs. (Bild: IKV)

Aufgrund des mangelnden Flammschutzes, einer geringen Schlagzähigkeit und einer niedrigen Wärmeformbeständigkeit kann sich PLA bisher nicht für technische Anwendungen, beispielsweise im Elektronik- oder Bausektor, qualifizieren [1]. Die Wärmeformbeständigkeit liegt bei amorphem PLA im Bereich der Glasübergangstemperatur zwischen 55 bis 60 °C und ist damit deutlich zu niedrig für die Anforderungen technischer Produkte. Durch eine Steigerung des Kristallisationsgrads ist es möglich, die Wärmeformbeständigkeit von PLA deutlich zu erhöhen. Dies ist durch eine Zugabe von Nukleierungsmittel und eine angepasste Temperaturführung möglich, um dem Kristallisationsvorgang während des Abkühlens ausreichend Zeit zu geben [3, 4, 5]. Um diesen Werkstoff auch für technische Anwendungen einsetzen zu können, werden an PLA-Compounds Untersuchungen zur Verbesserung der Wärmeformbeständigkeit mittels einer gezielten Temperaturführung des Spritzgießwerkzeugs durchgeführt. Ziel ist es, durch den Einsatz der variothermen Werkzeugtemperierung die erforderliche Kühlzeit zu reduzieren und dennoch hohe Kristallisationsgrade zu erreichen.

 

Identifikation eines geeigneten Prozessfensters

Im Rahmen der Arbeiten dient das PLA Luminy L105 der Firma Total Corbion, Gorinchem, Niederlande, als Basismaterial der untersuchten Compounds. Es handelt sich um ein PLA auf Basis von L-Isomeren mit einer Reinheit von über 99 % (PLLA), wodurch potenziell hohe Kristallisationsgrade ermöglicht werden. Um den Einfluss der Temperaturführung des Spritzgießwerkzeugs auf die mechanischen Eigenschaften zu analysieren, werden als Bauteile spritzgegossene Zugprüfkörper vom Typ 1A nach DIN EN ISO 527-2 mit einer Wanddicke von 4 mm zur Analyse der mechanischen Eigenschaften eingesetzt.

Selbst bei einer im Vergleich zum Spritzgießprozess geringen Abkühlgeschwindigkeit von 30 K/min ist in der DSC-Messung des reinen PLA kein exothermer Peak der Rekristallisation während der Abkühlung aus der Schmelze erkennbar. Dies verdeutlicht die langsame Kristallisationsgeschwindigkeit von reinem PLA und die Notwendigkeit der Hinzugabe von Nukleierungsmittel, um die Kristallisation unter hohen Abkühlraten zu ermöglichen. Im Rahmen dieser Arbeit werden ein Compound mit einem anorganischen Nukleierungsmittel (Talkum) sowie ein Compound mit einem organischen Nukleierungsmittel untersucht. DSC-Messungen zeigen, dass die Kristallisation dieser Compounds nur in einem engen Temperaturbereich um die Kristallisationstemperatur von 110 °C abläuft. Deshalb wird als Werkzeugtemperatur die Kristallisationstemperatur ausgewählt. Zur Ermöglichung der Kristallisation und zum Erreichen der Formteilstabilität ist eine Kühlzeit von 90 s notwendig. Dadurch lässt sich im Vergleich zu einer Werkzeugtemperatur von 30 °C ein deutlich höherer Kristallisationsgrad im Bereich von 60 % und eine Wärmeformbeständigkeit über 130 °C erreichen (Bild 1a+b).

Kristallisationsgrad und Wärmeformbeständigkeit für Compounds mit Nukleierungsmittel bei unterschiedlichen Werkzeugtemperaturen und Kühlzeiten.
Bild 1b: Kristallisationsgrad (a) und Wärmeformbeständigkeit für Compounds mit Nukleierungsmittel bei unterschiedlichen Werkzeugtemperaturen (TW) und Kühlzeiten (tK). (Bild: IKV)

Einsatz von Flammschutzmitteln

Neben einer hohen Wärmeformbeständigkeit erfordern technische Anwendungen einen ausreichenden Flammschutz. Für die weitere Rezepturentwicklung der Compounds werden verschiedene Flammschutzmittel, die dem reinen PLA in geringen Mengen hinzugefügt werden, auf ihre nukleierende Wirkung untersucht. Anhand von DSC-Messungen werden nukleierende Eigenschaften eines stickstoffbasierten Flammschutzmittels auf Basis von Melamincyanurat sowie eines mineralischen Flammschutzmittels auf Basis von Aluminiumhydroxid ermittelt.

Bei der Abkühlung aus der Schmelze weisen diese flammgeschützten PLA-Compounds einen exothermen Peak der Rekristallisation auf. Um die synergetische Wirkung dieser Additive aus Flammschutz und Nukleierung zu nutzen, werden für die weitere Compoundentwicklung anstatt der Nukleierungsmittel diese Flammschutzmittel dem PLA hinzugefügt.

 

Einsatz verschiedener Temperierstrategien

Das Erreichen einer hohen Wärmeformbeständigkeit geht aufgrund der erforderlichen Kühlzeit von 90 s mit einer langen Zykluszeit einher. Aus diesem Grund wird untersucht, ob durch den Einsatz der variothermen Werkzeugtemperierung die erforderliche Kühlzeit unter Aufrechterhaltung eines hohen Kristallisationsgrads reduziert werden kann. Als variotherme Temperierung kommt eine Fluidtemperierung mit einem Heiß- und einem Kaltwasserkreislauf zum Einsatz, zwischen denen umgeschaltet werden kann (Bild 2). Dazu werden zwei verschiedene Temperierstrategien verfolgt: Bei der Strategie „Heiß-Kalt“ wird in das beheizte Spritzgießwerkzeug eingespritzt (130 °C) und nach einer bestimmten Zeit auf den kalten Kreislauf (30 °C) umgeschaltet. Durch die anfangs hohe Temperatur soll das Wachstum der Kristalle ermöglicht und durch das anschließende Umschalten auf den kalten Kreislauf möglichst schnell die notwendige Entformungstemperatur erreicht werden. Die Temperaturen der einzelnen Kreisläufe sind dabei bewusst sehr hoch beziehungsweise niedrig gewählt, um ein schnelles Aufheizen und Abkühlen des Werkzeugs zu realisieren. Bei der Strategie „Kalt-Heiß“ wird in das gekühlte Spritzgießwerkzeug (80 °C) eingespritzt, um die Schmelze möglichst schnell auf den Bereich der Kristallisationstemperatur von 110 °C abzukühlen. Durch das Umschalten auf den warmen Kreislauf (130 °C) wird der Schmelze anschließend Zeit gegeben, um im Bereich der Kristallisationstemperatur zu kristallisieren.

Funktionsschema der variothermen Temperierung mit Heiß- und Kaltwasserkreislauf sowie Umschalteinheit
Bild 2: Funktionsschema der variothermen Temperierung mit Heiß- und Kaltwasserkreislauf sowie Umschalteinheit.Bild 2: Funktionsschema der variothermen Temperierung mit Heiß- und Kaltwasserkreislauf sowie Umschalteinheit. (Bild: IKV)

In Bild 3 sind die Ergebnisse für ein Compound bestehend aus PLA und insgesamt 21 % Flammschutzmittel gezeigt, das eine V-2-Klassifizierung nach DIN EN 60695-11-10 (UL 94) erzielt. Neben den beiden Flammschutzmitteln mit nukleierenden Eigenschaften ist ein phosphorhaltiges Flammschutzmittel enthalten. Bei der konventionellen Temperierung mit einer Werkzeugtemperatur von 30 °C besitzt das Compound einen Kristallisationsgrad von 26,6 %, einen Elastizitätsmodul von 3929 +/- 61 MPa, eine Zugfestigkeit von 44 +/- 0,66 MPa sowie eine Bruchdehnung von 1,6 +/- 0,1 %.

Durch die Erhöhung der Werkzeugtemperatur von 30 auf 110 °C steigen Kristallisationsgrad und Wärmeformbeständigkeit deutlich an. Dies bestätigt die nukleierende Wirkung der Flammschutzmittel. Während der Elastizitätsmodul mit zunehmendem Kristallisationsgrad steigt, nehmen die Zugfestigkeit und insbesondere die Bruchdehnung ab. Durch die dichte Anordnung der Polymerketten in den kristallinen Bereichen steigen die intermolekularen Bindungskräfte, was zu einem höheren Elastizitätsmodul führt. Die hohe Kristallinität führt jedoch zu einer Versprödung. Ein Grund für die Versprödung von PLLA mit steigendem Kristallisationsgrad kann die durch den sinkenden Anteil an amorphem Gefüge verursachte Reduzierung an inter- und intrakristalliner Kettenverschlaufung und „tie-Molekülen“ sein, was zu einem Bruch unter niedrigeren Kräften und Dehnungen führt. Die „tie-Moleküle“ ragen sowohl in die kristalline Phase der Spärolithe als auch in die amorphe Phase zwischen den Spärolithen beziehungsweise Lamellen hinein. Werden durch eine von außen wirkende Kraft diese „tie-Moleküke“ aus den Spärolithen hinausgezogen, bevor das Gefüge über eine molekulare Beweglichkeit verfügt, so tritt ein sprödes Bruchverhalten auf [6].

Einfluss der Werkzeugtemperierung auf den Kristallisationsgrad, die Wärmeformbeständigkeit und die mechanischen Eigenschaften eines flammgeschützten PLA-Compounds bei unterschiedlichen Temperierstrategien.
Bild 3: Einfluss der Werkzeugtemperierung auf den Kristallisationsgrad (a), die Wärmeformbeständigkeit (HDT) und die mechanischen Eigenschaften eines flammgeschützten PLA-Compounds bei unterschiedlichen Temperierstrategien. (Bild: IKV)

Für die variotherme Strategie „Heiß-Kalt“ werden Versuche mit unterschiedlich langer Heizzeit bei hoher Temperatur durchgeführt, um den Einfluss der Abkühlrate auf die resultierenden Eigenschaften systematisch zu analysieren. Die Haltezeit bei kaltem Kreislauf wird dabei minimiert, sodass eine Entformung des Zugstabs möglich ist. Für eine Heizzeit von 50 s bei 130 °C ist eine Haltezeit von 20 s bei 30 °C für die Entformung notwendig. Dadurch lässt sich die Kühlzeit auf 70 s senken, ohne Einbußen bei der Wärmeformbeständigkeit und den mechanischen Eigenschaften zu erhalten. Bei weiterer Reduzierung der Heizzeit bis auf 30 s sinkt die Wärmeformbeständigkeit kontinuierlich bis auf 92 °C, während die mechanischen Eigenschaften nahezu unverändert sind. Ein weiterhin hoher Kristallisationsgrad von 59,1 % unterstreicht, dass eine Heizzeit von 30 s in Kombination mit einer hohen Werkzeugtemperatur für eine Kristallisation der Schmelze im Kern ausreicht.

Wird die Heizzeit weiter auf 20 s reduziert, ändern sich die resultierenden Eigenschaften deutlich: Der Kristallisationsgrad sinkt auf 32,1 % ab. Der Schmelze im Kern wird nicht mehr ausreichend Zeit gegeben, um zu kristallisieren. Dies verdeutlicht die starke Abhängigkeit des Kristallisationsgrads des PLA von der Abkühlrate. Mit dem Kristallisationsgrad sinkt erwartungsgemäß der Elastizitätsmodul, die Zugfestigkeit und die Bruchdehnung nehmen zu. Aufgrund des geringen Kristallisationsgrads bedarf es einer langen Haltezeit von 50 s bei 30 °C, um die Formteilstabilität zu ermöglichen. Die Gesamtkühlzeit steigt dadurch an. Bei der Strategie „Kalt-Heiß“ erfolgt das Umschalten vom kalten auf den heißen Kreislauf 5 s nach dem Einspritzen, sodass der Abkühlvorgang in der Bauteilmitte im Bereich der Kristallisationstemperatur bei 110 °C verzögert wird. Für das Erreichen der Formteilstabilität wird eine Haltezeit bei 130 °C von 50 s benötigt, sodass die Gesamtkühlzeit 55 s beträgt. Dadurch lässt sich ein Kristallisationsgrad von 60,6 % erreichen, der mit einer hohen Wärmeformbeständigkeit von 111,7 °C einhergeht.

 

Fazit und Ausblick

Es wurden PLA-Compounds im Spritzgießen verarbeitet, die Flammschutzmittel mit nukleierenden Eigenschaften enthalten. Mit einer Werkzeugtemperatur von 110 °C und einer Kühlzeit von 90 s wurde ein hoher Kristallisationsgrad von circa 60 % erreicht, der mit einer Wärmeformbeständigkeit von über 120 °C einhergeht. Durch den Einsatz der variothermen Temperierung kann die Kühlzeit bei vergleichbaren mechanischen Eigenschaften um über 30 % bis auf 55 s reduziert und gleichzeitig eine hohe Wärmeformbeständigkeit im Bereich von 110 °C erreicht werden.

 

Dank

Das Forschungsvorhaben wurde vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) durch die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR) e. V. aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages (Fördernr. 22021716) gefördert. Die Autoren bedanken sich außerdem bei den Unternehmen des Forschungskonsortiums Evonik Operations GmbH, FKuR Kunststoff GmbH und Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik Umsicht für die Zusammenarbeit.

 

Literatur

  • [1]        N.N.: Polylactic Acid Market Size, Share & Trends Analysis Report By End-use (Packaging, Agriculture, Automotive & Transport, Electronics, Textile), By Region, And Segment Forecasts, 2020–2027. Industry report, Grand View Research Inc., 2020.
  • [2]        Baur, E.; Brinkmann, S.; Osswald, T.A. ; Rudolph, N.; Schmachtenberg, E.: Saechtling Kunststoff Taschenbuch. München: Carl Hanser Verlag, 2013.
  • [3]        Harris, Angela M.; Lee, Ellen C.: Improving Mechanical Performance of Injection Molded PLA by Controlling Crystallinity. Journal of Applied Polymer Science 107 (2007) 4, S. 2246–2255.
  • [4]        Refaa, Z.; Boutaous, M.; Siginer, D.A.: PLA Crystallization Kinetics and Morphology Development. International Polymer Processing 18 (2018) 3, S. 336–344.
  • [5]        Li, Hongbo; Huneault, Michel A.: Effect of nucleation and plasticization on the crystallization of poly(lactic acid). Polymer 48 (2007) 23, S. 6855–6866.
  • [6]        Razavi, M., Wang, Shi-Qing.: Why is Crystalline Poly(lactic acid) brittle at Room Temperature? Macromolecules 52 (2019) 14, S. 5429–5441.

Autoren

Christian Hopmann

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Christian Hopmann ist Leiter des Instituts für Kunststoffverarbeitung (IKV) in Industrie und Handwerk an der RWTH Aachen.

Thilo Köbel

Thilo Köbel, M.Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IKV und Leiter der Arbeitsgruppe Maschinenentwicklung Spritzgießen.

Sie möchten gerne weiterlesen?

Unternehmen

Institut für Kunststoffverarbeitung (IKV)an der RWTH Aachen

Seffenter Weg 201
52074 Aachen
Germany