Heiko Atzrodt, Abteilungsleiter Strukturdynamik und Schwingungstechnik, Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF

Heiko Atzrodt, Abteilungsleiter Strukturdynamik und Schwingungstechnik, Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF (Bild: Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF)

PLASTVERARBEITER: Herr Atzrodt, was genau versteht man eigentlich unter vibroakustischen Materialien – und warum spielen sie bei modernen Formen der Mobilität eine so große Rolle?

Heiko Atzrodt: Lärm, Vibrationen und Erschütterungen beeinträchtigen die Lebensqualität und den Komfort im Alltag maßgeblich. Nach neuesten Studien der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Lärm die zweitgrößte Gesundheitsgefahr für Menschen. Insbesondere der Mobilitätssektor stellt dabei eine der maßgeblichen Lärmquellen dar. Darüber hinaus werden hier vermehrt Leichtbaustrukturen eingesetzt. Dies führt zum einen zu geringem Kraftstoffverbrauch und weniger CO2-Ausstoß, zum anderen jedoch aufgrund höherer Struktur-Nachgiebigkeit zu größeren Schwingungsamplituden und folglich zu ungünstigen Betriebsbedingungen, Verschleiß und Lärm.
Konventionelle Ansätze zur Schwingungs- und Lärmreduktion, beispielsweise Maßnahmen wie Dämmmaterial, einzelne Tilger und akustische Resonatoren, können diese Probleme nur begrenzt lösen. Strukturen mit periodisch angeordneten Resonatoren können hingegen den Zielkonflikt zwischen Leichtbau und optimalem vibroakustischem Verhalten auflösen. Diese Strukturen werden als vibroakustische Metamaterialien (VAMM) bezeichnet. VAMM zeichnen sich durch eine regelmäßige, räumliche Integration strukturdynamischer Resonatoren aus. Diese ermöglichen eine starke Reduktion von Schwingungen in einem breiten Frequenzbereich bei gleichzeitig geringem Gewicht.

PLASTVERARBEITER: Dürfen Sie uns verraten, womit Sie sich aktuell im Zuge Ihrer Forschungsarbeit beschäftigen?

Atzrodt: Wir beschäftigt uns bereits in verschiedenen Forschungsprojekten mit VAMM, beispielsweise in der Luft- und Raumfahrt, dem Automobilbau oder dem Maschinenbau und betrachten dabei unterschiedliche Konzepte von lokalen Resonatoren. Unsere Expertise und Kompetenz reicht von der numerischen Auslegung der Materialen über die Konzeptentwicklung bis zur späteren Realisierung als Prototyp. Wir erarbeiten großserientechnisch herstellbare VAMM und schließen damit die Lücke zwischen Forschung und Anwendung.

2021 beauftragte die ASFINAG das Fraunhofer LBF mit der Entwicklung des Laborprototypens zur Überprüfung des theoretischen Ansatzes für die Wirkung schwingungsmindernder Materialien in Lärmschutzwänden. Die Ergebnisse sind vielversprechend: Durch die mit VAMM ausgestattete Glas-Lärmschutzwand konnte im Labor eine Übertragungsreduktion von bis zu 20 Dezibel (dB) im Vergleich zu einer konventionell absorbierenden Lärmschutzwand erzielt werden. Gefördert von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft soll Mitte 2022 die Ausschreibung zu einer Innovationspartnerschaft für VAMM erfolgen – mit dem Ziel, den Laborprototypen auf die Autobahnen und Schnellstraßen zu bringen.
Im Bereich der des Automobilebaus entwickeln wir mit Partnern Fahrzeugtüren oder Deckel für Power Electronic die mit VAMM ein deutlich besseres akustischer Verhalten aufweisen.

PLASTVERARBEITER: Reichen aus Ihrer Sicht die am Markt bereits erhältlichen Materialien aus, oder müssen unter Umständen gänzlich neue Werkstoffe entwickelt werden?

Atzrodt: Die einzelnen Resonatoren der VAMM bestehen aus Federsteifigkeiten in Form von Elastomeren, Membranen oder Biegebalken aus Stahl oder Polymeren. Durch den Einsatz von unterschiedlich abgestimmten Resonatoren oder das Einbringen von Dämpfung in die VAMM lassen sich sehr breite Stoppbänder erzeugen, die sehr breitbandigen Lärm effektiv reduzieren können. Aktuelle Polymere können eingesetzt werden, besser wären aber biobasiert oder recycelte Materialien die langlebig sind und über die Zeit konstante Materialeigenschaften aufweisen.

Über den Mobility & Polymer Summit

Die Automobilindustrie hat mit großen Schritten die Entwicklung von Fahrzeugen und Konzepten für eine CO2-sparende Mobilität in Angriff genommen. Fahrzeuge mit hybriden oder vollständig elektrischen Antriebskonzepten sind bereits in großer Zahl im Markt und immer mehr Hersteller planen den vollständigen Abschied vom Verbrenner.

Alle neuen Technologien in den verschiedenen Mobilitätskonzepten erfordern Bauteile und Komponenten aus Kunststoff. Doch eine Kernfrage der Zulieferer lautet: Wohin geht die Reise und welche Produkte und Anforderungen sind für neue Fahrzeuge und Antriebe gefragt? Auf dem Mobility & Polymer Summit gehen wir dieser Frage nach und lassen führende Experten aus der Automobil- und der kunststoffverarbeitenden Zulieferindustrie zu Wort kommen. Wir geben Einblicke in aktuelle Entwicklungen und Ausblicke auf neue Produkte.
Auf unserer Event-Seite finden Sie alle Informationen zur Veranstaltung – natürlich inklusive der Möglichkeit zur Anmeldung: https://www.mobility-polymer-summit.de/

Logo des Mobility & Polymer Summit
(Bild: Hüthig)

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