Dass sich Kunststoffe, Nachhaltigkeit, Umweltschutz und der Sport in der Natur nicht entgegenstehen, zeigt Marker mit seiner Skitourenbindung namens Cruise. Das Skitourengehen ist im Skiumfeld die Sportart mit dem geringsten CO2-Fuß-abdruck.
Aus diesem Grund war erklärtes Entwicklungsziel, für die Skitourenbindung den CO2-Fußabdruck noch weiter zu senken. Um hier ein sehr gutes Ergebnis zu erzielen, haben Marker und die Lehvoss Group bei der Materialentwicklung eng kooperiert. Dies hat sich über den gesamten Prozess als optimal dargestellt, da Compounds von Grund auf entwickelt wurden und jeder Materialansatz hinsichtlich der technischen Eigenschaften und der Umweltauswirkungen bewertet werden musste.
Klare Vorgaben für die Entwicklung
Es wurde tatsächlich jedes Teil neu gedacht! Insofern mal wieder ein echtes Ingenieurprojekt mit vielen Freiheitsgraden, aber sehr strengen Anforderungen. Die aktuellen Erkenntnisse im Bindungsbau sind in die Kon-struktion der Bauteile eingeflossen. Basierend hierauf wurde die Entwicklung der entsprechenden Kunststoffcompounds aufgesetzt. Erfreulicherweise ging nicht alles im ersten Ansatz glatt! Das führte dazu, dass sowohl manche Designdetails als auch Compoundlösungen hinterfragt werden mussten. Letztlich ein normaler Entwicklungsprozess, der hierdurch aber zu sehr besonderen Lösungen führte.
Eine klare Lastenheftforderung zum Entwicklungsbeginn war, dass sowohl technische Recyclingmaterialien aus der Produktreihe Luvotech Eco als auch biobasierte Hochleistungscompounds der Produktreihe Luvocom betrachtet werden sollen. Die Polymerauswahl richtete sich hierbei an vielen Grundanforderungen aus, wie:
- Feuchteaufnahme des Materials und Dimensionsstabilität,
- Abminderung der mechanischen Kennwerteunter Feuchteaufnahme,
- Kälteschlagzähigkeit,
- Verarbeitbarkeit,
- abbildbare Oberflächengüte,
- Einfärbbarkeit,
- UV-Stabilität.
Parallel zu den technischen Eigenschaften wurden CO2-Äquivalente berechnet und bewertet. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Vergleich eines im Skibindungsbereich üblichen, jedoch speziell modifizierten PA6-GF, mit einem speziell entwickelten Compound auf Basis Polyamid 410. Letzteres zeigt hier ein um 70 % reduziertes CO2-Äquivalent (Bild 2). Ergänzend hierzu müssen jedoch auch alle technischen Anforderungen in vollem Umfang erfüllt werden, die bisher verwendete Materialien bereits nachweislich erfüllt haben.
Bei den technischen Eigenschaftsdaten tritt die Feuchte- beziehungsweise Wasseraufnahme im Vergleich zu PA6 in den Vordergrund. Insbesondere auch wegen der geringen Feuchteaufnahme wurde ein PA410 als Basispolymer gewählt. Bei diesem Material bewegt sich die Veränderung der mechanischen Eigenschaften auch bei großer Feuchteaufnahme in einem deutlich engeren Fenster als bei PA6 oder PA66 (Bild 3). Dies stellt für den Konstrukteur eine sehr komfortable Ausgangslage dar, da die Leistungsreserven in der Bauteilauslegung signifikant höher sind. Somit besteht die Möglichkeit, die Bauteilgewichte zu reduzieren, wenn sich das Material am mechanischen Auslegungsoptimum für die Anwendung bewegt.
Im Prinzip lässt sich die geringere Eigenschaftsänderung über Feuchteaufnahme auf alle weiteren mechanischen Kennwerte übertragen. So ist der Steifigkeitsverlust geringer, die Bruchdehnung und insbesondere Zähigkeit variieren weniger.
Was bewirkt Feuchtigkeit in Polyamid?
Bei Polyamiden wird der Gewinn an Zähigkeit und Dehnung über Feuchteaufnahme gerne als genereller Materialvorteil bewertet. Wird jedoch eine Skibindung betrachtet, so ist hier über Temperatur und Feuchte ein möglichst konstantes Eigenschaftsprofil erstrebenswert.
Im Grenzfall könnte es bedeuten, dass eine Skitourenbindung auf einem Skiset, das über lange Zeit im feuchten Kofferraum eines Autos unter Sonnenbescheinung lag, viel Feuchte aufgenommen hat. Die Bindung ist dann weich und elastisch. Keine guten Voraussetzungen, wenn maximale Steifigkeit benötigt wird, um die Vortriebskräfte auf den Ski zu bringen.
Das gegensätzliche Betrachten wäre die mehrtägige Skitour mit Kalt-/Trockenumgebung auf dem Berg (2.000 m bei -20 °C). Das Material sehr trocken, die Zähigkeit läge auf dem für das Material möglichen Minimum.
Für die Bauteile mit der höchsten Last wurde daher vom Compoundeur ein PA410 GF30 mit speziellen Modifikationen entwickelt. Die technischen Kennwerte dieses Materials liegen deutlich über denen eines PA6, weswegen eine Gewichtsoptimierung umgesetzt und das CO2-Äquivalent deutlich reduziert werden konnte. Darüber hinaus konnte, obwohl ein leistungsfähiger biobasierter Werkstoff eingesetzt wird, bei einigen Teilen eine deutliche Kostenreduktion erreicht werden. Die Kosten der Kunststoff-Steighilfe betragen nur ein Fünftel wie die aus Aluminium.
Bei den weiteren Bauteilen war es möglich, auf bestehende Eco-Materialien zurückzugreifen. Hier kommen Polyamidwerkstoffe auf Basis PA6 zum Einsatz, die mittlerweile einen gewissen Standard bei Eco-Materialien im Sportsegment abbilden. Diese werden, wie alle hier verwendeten Polymere in Deutschland produziert, um auch den transportinduzierten Teil des CO2-Äquivalents möglichst gering zu halten. Verwendet wird das Compound PA6 GF30 HI BK des Herstellers (Bild 4).
Hier ersetzt Kunststoff Metall
Eine absolute Neuigkeit stellt der Materialansatz für den Vorderbacken der Cruise-Pinbindung dar (Bild 5, unterer Bildrand links). Er nimmt im Aufstieg am Berg die Hauptlast auf, da der Skitourenschuh hier ausschließlich in zwei Stahlpins geführt wird. Bei einer Abfahrt ist der Skitourenschuh in der gesamten Bindung fixiert.
Da Skitourenbindungen stets in Richtung Leichtbau optimiert sind, werden sehr leistungsfähige Werkstoffe benötigt, bisher hauptsächlich hochfeste Aluminium oder Magnesiumlegierungen bis hin zu Stahl. Dies betrifft im Besonderen die Baugruppe Vorderbacken.
Beim Vorderbacken waren die Gesamtanforderungen sehr hoch. Gefordert waren höchste Festigkeiten und Schlagzähigkeiten, bei geringstmöglicher Wasseraufnahme, sehr gute Oberflächenabbildung/Anmutung und ohne zu hohen Aufwand sicher verarbeitbar. Nicht zu vergessen – geringstmöglicher CO2-Fußabdruck!
Um die geforderten Materialfestigkeiten und -steifigkeiten zu erzielen, war der Einsatz von Carbonfasern als Verstärkungsmaterial unumgänglich. Um den CO2-Fußabdruck bestmöglich zu reduzieren, wurde das Bauteil mit Recycling-Carbonfasern ausgelegt. Als Polymer kommt ein 100 % biobasiertes Langkettenpolyamid zum Einsatz, in welches 30 % einer speziell aufbereiteten rezyklierten Carbonfaser eingearbeitet werden.
Im Vergleich zur bisherigen Lösung wird mit diesem Material eine deutliche Verbesserung der Einsatzeigenschaften erzielt. So konnte im Bauteilversuch eine sehr viel höhere Schlagenergieaufnahme, insbesondere im Tieftemperaturbereich, erreicht werden. Für den Skitourengeher wird so der Sicherheitsfaktor gegen Bruch weiter erhöht.
Welche Farbe darf es sein?
Als wenn das noch nicht genug wäre, wurde auch das Thema Farbgebung beziehungsweise das Einfärben der Kunststoffe eingehend betrachtet. Skibindungen müssen als B2C-Produkt eine gefällige Anmutung mitbringen. Farbliche Akzente werden in der Cruise über die verstellbaren Steighilfen eingebracht. Diese Elemente gleichen beim Bergaufgehen den Winkel zum Ski/Skihang und dem Skibergsteiger aus, der Schuh steht somit beim Bergaufabdruck in einem angenehmen Winkel zur Beinachse (Bild 6). Ebenso wie die Bindungsteile müssen die Steighilfen sehr hohe Lasten aufnehmen. Die in zwei unterschiedlichen Grüntönen eingestellten Steighilfen werden aus dem gleichen PA410 hergestellt wie die bereits beschriebenen Bindungsteile.
Um die Festigkeiten zu gewährleisten, wurden gemeinsam mit dem Entwicklungspartner Rowa Masterbatches entwickelt. Hierfür kamen spezifisch ausgewählte Pigmentkombinationen zum Einsatz, welche die Kristallisation positiv beeinflussen und sich nicht störend auf die mechanischen Eigenschaften auswirken. Um ein Monompolymer zu erhalten, wurden die Masterbatches auf Polyamid 410 aufgebaut, um kein Fremdpolyamid einzuschleppen. Dies hätte sich wiederum negativ auf die Materialeigenschaften und die Recyclingfähigkeit ausgewirkt.
Deshalb zahlt sich Teamarbeit aus
Die Entwicklung im Team hat den Wissensschatz aller Involvierten erheblich erweitert. Die Hürden bezüglich der geforderten Leistungsfähigkeit waren sehr hoch. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass sowohl mit hochentwickelten biobasierten Compounds als auch mit Recy-clingkunststoffen stark beanspruchte Baugruppen realisierbar sind. Günstig war, dass der Compoundeur keine Limitierung hinsichtlich der verwendbaren Polymere, der Verstärkungsstoffe oder Additive einhalten braucht. So konnten die Werkstoffe für die diversen Bauteile lastgerecht entwickelt werden. Das besondere Know-how im Umgang mit Carbonfasern und Schlagzähmodifikatoren hat hier zu einem Produkt geführt, das alle Anforderungen erfüllt sowie alle Labor- und Outdoortests bestanden hat.
Um den CO2-Fußabdruck reduzieren zu können, waren Entwicklungen und Verbesserungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette hinweg erforderlich. Dies zeigt einmal mehr, dass hochgesteckte Ziele durch entsprechenden Einsatz und Expertise zu erreichen sind.
Halle/Stand B1/1109
Quelle: Lehvoss
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