„Kannst du mit deinen Spritzgießmaschinen ein Teil herstellen, das frisch gepflanzte Bäume im Wald gegen Wildverbiss schützen kann?“ Diese Frage wurde Hubertus Franckenstein, geschäftsführender Gesellschafter von Neo-Plastic, gestellt. Die Spritzgießmaschinen in seinem Unternehmen in Diespeck können das, und im firmeneigenen Werkzeugbau kann auch das Werkzeug für die Produktion gefertigt werden. Doch für ein solches Produkt braucht es viel mehr. Welches Material ist dafür geeignet und wie soll das Produkt aussehen? Fragen, die der Kunststoffverarbeiter nicht alleine beantworten kann. Denn interessant ist die Fragestellung schon, und so nimmt Hubertus Franckenstein Kontakt zu seinen Kollegen Achim Henkel und Thomas Lemke vom Verein Forum Werkstoffe e. V., einem Zusammenschluss von Experten der Kunststoffbranche, auf. Achim Henkel, Inhaber des Ingenieurbüros Kunststoffe-Dienstleistungen-Service (KDS), ist in dem Projekt für den Werkstoff zuständig und Thomas Lemke, geschäftsführender Gesellschafter der Glenpro Ingenieur-GmbH, übernimmt federführend die Geometrieentwicklung. Sie sind die geeigneten Partner, um aus der Idee ein ungewöhnliches Kunststoffteil werden zu lassen.
Im ersten Schritt wird eine Marktrecherche durchgeführt, Anforderungen in einem Lastenheft formuliert und erste Ideen skizziert. Daraufhin beschließen sie die Umsetzung des Projektes Verbissschutz mit dem Ziel, eine echte Alternative zu bestehenden Schutzmöglichkeiten zu generieren. Der Verbissschutz (VBS) soll aus einem vollständig biobasierten und bei dauerndem Bodenkontakt vollständig biologisch abbaubaren Kunststoff bestehen. Ebenso soll er mitwachsen können, was bedeutet, dass er die Pflanze in ihrem Wachstum nicht behindert, aber dauerhaft am Terminaltrieb auf der Triebspitze verbleibt.
Diese Kriterien muss der Werkstoff erfüllen
Biopolymere gibt es mittlerweile zahlreiche am Markt. Doch beim Anforderungsprofil, das an den Werkstoff für den VBS gestellt wird, ist die Auswahl deutlich eingeschränkt: Dauereinsatz im Freien, bei dauerndem Bodenkontakt innerhalb weniger Monate biologisch abbaubar, spritzgießbar, am Markt verfügbar sowie idealerweise von anerkannten Stellen geprüft und damit kein für die Anwendung spezifisch entwickeltes Polymer. Hinzu kommen mechanische Eigenschaften wie Zähigkeit, Einfärbbarkeit, leicht fließende Eigenschaften und lange Lebensdauer auf der Triebspitze. Das geforderte Profil wird nach intensiver Suche von einem PET-Compound erfüllt, das vom TÜV Austria bezüglich Zersetzung bei dauerndem Bodenkontakt zertifiziert ist (OK biodegradable Soil, ISO 17556/EN 13432, certified by TÜV Austria Belgium).
Eingefärbt wird das PET-Compound mit einem biobasierten Masterbatch, das nach Herstellerangaben bei richtiger Dosierung ebenfalls die oben genannte TÜV-Vorgabe erfüllt. Die Farbwahl ein frisches Blau, da die Farbe Blau von Wildtieren erkannt wird und sie vom Fressen abhalten soll. In Studien wurde nachgewiesen, dass Rehe und Hirsche im Vergleich zum Menschen nur zwei statt drei verschiedene Zapfenzellen im Auge besitzen. Ihnen fehlt dadurch die Fähigkeit, Rottöne zu erkennen, weil die vorhandenen Zellen nur Grün und Blau wahrnehmen. Da die Triebspitze grün ist, fällt die Entscheidung auf die Kontrastfarbe Blau. Zusätzlich erleichtert die blaue Farbe das Wiederauffinden der Pflanze in einem bestehenden Forst. Mit Blick auf den Abbauprozess und den Umweltschutz wird kein extra UV-Schutz-Additiv eingesetzt, da das Material per se relativ UV-beständig ist.
Mit einem von Neo-Plastic zur Verfügung gestellten Versuchswerkzeug mit filigraner Geometrie und geringem Schussgewicht werden verschiedene Biocompounds gemustert und auf ihre Eigenschaften geprüft. Nach der Auswahl eines Mustermaterials wird die endgültige Geometrie des Verbissschutzes festgelegt.
Welche Form erfüllt den Zweck?
Da der Verbissschutz über lange Zeit am Haupttrieb der Pflanze verbleiben soll, darf er diesen nicht in seinem Wuchs behindern. Er muss aber gleichzeitig Wind, vorbeistreifenden Tieren, herabfallendem Schnee oder Ästen von großen Bäumen standhalten. Nun sind Thomas Lemke und das Glenpro-Team gefragt, verschiedene leichte und dennoch festsitzende „Schutzhauben“ zu konstruieren. So entstehen Hauben mit unterschiedlichen Klemmgeometrien in Anzahl und Form. Außerdem muss die Haube so gestaltet werden, dass darunter kein ungünstiges Mikroklima für den Trieb entstehen kann.
Die favorisierten Geometrien werden von einem Prototypen-Dienstleister umgesetzt, um erste Versuche im Wald durchzuführen. Denn für das Festlegen der finalen Geometrie ist die Beantwortung folgender Fragen wichtig: Wie einfach lassen sich die Teile an den jungen Pflanzen anbringen? Sitzen diese fest oder weht sie der Wind weg?
Warum der Terminaltrieb wichtig ist
Wird der Haupttrieb – die „Spitze“ – eines jungen Baumes abgenagt, wächst der Baum zum einen bis zu einem Jahr nicht weiter und in der Folge langsamer. Zum anderen bildet er Nebentriebe aus, die den Wert des Baumes bei der späteren Holzverwertung bedeutend schmälern.
Die Not der Waldbesitzer ist beim Thema Wildverbiss groß, denn je nach Bejagung können in einem Revier ohne jegliche Schutzmaßnahmen die Verbisszahlen zwischen 40 und 100 % liegen. So ist es leicht, Waldbesitzer zu finden, die ihren Wald für einen Versuch zur Verfügung stellen. In Erich Lang, einem weiteren Forum-Werkstoffe-Vereinsmitglied, wurde ein an dem VBS interessierter Waldbesitzer gefunden.
Beim Begutachten nach sechs Monaten der auf den Terminaltrieben aufgesteckten Prototypenteile wurde festgestellt, dass diese mit den Bäumchen mitgewachsen waren. So konnte die finale Geometrie festgelegt werden, die einerseits dafür sorgt, dass Wasser, Sonnenlicht und Luft in ausreichendem Maße an die Pflanzenspitze gelangt und die Stiftgeometrie das Wild von Verbiss abhält. Die gewählte Form gewährleistet den Einsatz an verschiedenen Nadelbäumen in unterschiedlichen Altersstufen und schützt den Terminaltrieb, bis er den Fressfeinden, vor allem Rehen, „über den Kopf gewachsen ist“.
Im nächsten Projektschritt, der Werkzeugkonstruktion, wird Georg Helm, Geschäftsführer LH Werkzeug-Konstruktion und ebenfalls ein Mitglied von Forum Werkstoffe, mit in das Projekt eingebunden. Er konstruiert das komplexe Werkzeug für das lediglich rund 1,5 g leichte Teil. Dieses Werkzeug wird anschließend bei Neo-Plastic gebaut, abgemustert und eine Vorserie produziert. Diese Erstserienteile wurden erneut hinsichtlich ihrer Funktion als mitwachsender Terminaltriebschutz erfolgreich im Wald getestet.
Wie es weitergeht
Zwischenzeitlich wurden die Versuche im Wald auf Jungpflanzen verschiedener Nadelbaumarten wie Weißtanne, Schwarzkiefer, Lärche, Fichte, Douglasie, Blaufichte und Nordmanntanne und auf mehrere Regionen Deutschlands ausgedehnt, um weitere Erfahrungen bei regional unterschiedlichen Witterungseinflüssen zu sammeln.
Das Team ist zuversichtlich, dass auch diese Versuchsreihen erfolgreich verlaufen werden und die Bäumchen durch den Verbissschutz Cropro (Crown Protection) zu stattlichen Bäumen heranwachsen werden.
Quelle: Neo-Plastic
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