Algen an einer Meeresküste. Ein vertrauter Anblick.

Ein vertrauter Anblick: Algen an der Meeresküste. (Bild: Reiseuhu – Unsplash.com)

Regelmäßige Negativschlagzeilen zum problematischen Umgang mit Kunststoffen sind Alltag für Verbraucher. Bilder von durch Kunststoffe verunreinigten Meeren und Flüssen befeuern Emotionen und entfachen teils hitzige Diskussionen. Zweifelsfrei ist die Herausforderung, einen passenden Ansatz und Umgang mit Kunststoffabfällen zu finden enorm. Allein in Deutschland fallen jährlich rund 20 Mio. t Kunststoffabfall an. Ein beträchtlicher Teil davon wird verbrannt oder exportiert und hierbei häufig nur unter geringen Standards recycelt. Die Suche nach nachhaltigen Alternativen ist dringlicher denn je.  
Die Wurzeln von Greenfoilnature und seinen beiden Gründern Tobias Irkens, einem Apotheker, und Philipp Wisse, einem Ingenieur, liegen in der Medizintechnik. Vom Herzschrittmacher, über Wundauflagen bis hinein in die Dentaltechnik haben sie an Innovationen mitgewirkt. Hierbei entstand die Idee Algen auch als Verpackungsmaterial zu verwenden. Schon seit Langem werden Algen in der Medizintechnik erfolgreich eingesetzt, sei es in der Wundversorgung, als Abformmaterial für die Zahnmedizin, beim Herstellen von Kapseln oder als Zerfallsadditiv in der Tablettierung. „Ich stamme gebürtig von der Ostseeküste. Algen begleiten mich seit meiner Kindheit. In der Medizintechnik habe ich dann die einzigartigen Möglichkeiten Algen zu nutzen näher kennen und schätzen gelernt“, sagt Gründer und Geschäftsführer Philipp Wisse.

Ein Glas mit leicht gelblicher Flüssigkeit - darin ein PLA-Compound. Ein PLA-Compound mit dem Zerfallsbeschleuniger zeigt bereits nach einer Woche eine beginnende Desintegration bei Kontakt mit herkömmlichen Trinkwasser.
Ein PLA-Compound mit dem Zerfallsbeschleuniger zeigt bereits nach einer Woche eine beginnende Desintegration bei Kontakt mit herkömmlichen Trinkwasser. (Bild: Greenfoilnature)

Darum sind Algen ein vielfältiger Rohstoff

Algen sind in der Tat ein echtes Kraftpaket: Mit der höchsten je gemessenen Wachstumsrate aller autotrophen, mehrzelligen Pflanzen, produzieren sie rasch Biomasse und wachsen dabei auf Flächen, die für traditionelle Landwirtschaft ungeeignet sind – einschließlich solcher mit Brack-, Salz- oder Abwasser. Angesichts wachsender Probleme beim Gewinnen von Trinkwasser und der Tatsache, dass allgemein nur 3 % der weltweiten Wasservorkommen Süßwasser sind, ein Fakt, der schon heute von immenser Bedeutung ist. Zusammen mit ihrer Fähigkeit, CO2 zu binden und in organische Verbindungen umzuwandeln, werden Algen zu einem wahren Musterschüler der Nachhaltigkeit. Daneben erobern Algen als kostengünstiger und vielseitiger Rohstoff den globalen Markt. Vom Wurstdarm aus Algen über die Medizintechnik bis in die Textilindustrie reicht ihr Einsatzspektrum. Dieser „Meer-Wert“ hat die Alge als strategischen Rohstoff auch auf politischer Ebene in den Fokus gerückt. Im Rahmen des Europäischen Green Deals soll in Europa bis zum Jahr 2050 eine klimaneutrale und leistungsfähige Kreislaufwirtschaft etabliert werden und so die Lebensgrundlage auch für zukünftige Generationen gesichert sein. Algen spielen hierbei eine zentrale Rolle beim Reduzieren des Drucks auf die Landressourcen der EU, da Landflächen sowohl Lebensraum für uns Menschen als auch Anbauflächen für Lebensmittel darstellen. Als Beispiel wurde 2022 die Initiative EU4Algea ins Leben gerufen, um die Entwicklung einer europäischen Algenindustrie zu beschleunigen und damit den Weg in eine nachhaltigere Zukunft zu ebnen.

Schaubild: Zerfallsmechanismus.
Zerfallsmechanismus (Bild: Greenfoilnature)

Das Unternehmen sieht in der Nutzung von marinen Polysacchariden nicht nur eine ökologische Notwendigkeit, sondern auch eine wirtschaftliche Chance, die Etablierung einer klimaneutralen Kreislaufwirtschaft mitzugestalten. Die entwickelten Produkte und Technologien zielen darauf ab, die weit verbreitete Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren und stattdessen zusätzlich auf die unerschöpflichen Ressourcen der Ozeane zu setzen.

Alles zum Thema Biokunststoffe

Eine Hand reißt einen Papierstreifen weg. Darunter steht das Wort "Biokunststoff"
Wissenswertes über Biokunststoffe finden Sie in unserem Übersichtsartikel. (Bild: thingamajiggs - stock.adobe.com)

Auf dem Weg zu einer klimaneutralen Zukunft müssen verschiedenste Rädchen ineinander greifen. Doch wie schaffen wir es, die Dekarbonisierung unserer Gesellschaft umzusetzen? Biokunststoffe sind ein wichtiger Hebel um diesem Ziel näher zu kommen. Doch was wird unter einem Biokunststoff eigentlich verstanden? Wo werden diese bereits eingesetzt? Und ist "Bio" wirklich gleich "Bio"? Wir geben die Antworten. Alles, was Sie zu dem Thema wissen sollten, erfahren Sie hier.

Breites Einsatzspektrum in der Verpackungstechnik

Links ist eine klassische Fasergussform mit einer performanten Algenbarriere abgebildet, die auch nach Wochen ölundurchlässig bleibt, während die gleiche Form rechts (ohne diese Barriere) das Öl nicht halten kann.
Links eine klassische Fasergussform mit einer performanten Algenbarriere abgebildet, die auch nach Wochen ölundurchlässig bleibt, während die gleiche Form rechts (ohne diese Barriere) das Öl nicht halten kann. (Bild: Greenfoilnature)

Das Unternehmen stellt algenbasierte Matrixadditive für Biokunststoffe her, die den Zerfall von Produkten in natürlichen Umgebungen beschleunigen. Inspiriert durch Wirkmechanismen in der Pharmazie haben Irkens und Wisse ein Additiv entwickelt, welches es ermöglicht den Abbau von Biokunststoffen deutlich zu beschleunigen. So lässt sich bereits nach einer Woche im Wasserbad die beginnende Desintegration bei durchschnittlich 21 °C und 40 bis 60 % rel.F erkennen. Je nach Rezeptur können diese Effekte weiter beschleunigt oder verzögert dargestellt werden. Somit gibt dieses Additiv eine Antwort auf eine der Herausforderungen konventioneller bioabbaubare Kunststoffe wie PLA – der recht langsamen Zersetzung. Durch die Integration dieser Technologie in kompostierbare Materialien wird deren Abbau in einer Weise gesteuert, die sowohl die Umwelt schont als auch den Anforderungen einer effizienten Abfallwirtschaft gerecht wird.
Darüber hinaus wird eine algenbasierte Beschichtung für Papier und Kartonage entwickelt. In einer Welt, in der Einwegprodukte trotz steigendem Umweltbewusstsein allgegenwärtig sind, bietet diese Beschichtung eine innovative und umweltfreundliche Alternative. Sie widersteht Ölen, Fetten, Alkohol und Wasser und stellt eine bioabbaubare Option zu PE-beschichteten Materialien dar, wie sie derzeit bei der Mehrzahl von Einwegpapierbechern eingesetzt wird. Dabei setzt sie auf natürliche Inhaltsstoffe und stellt somit eine Alternative für Einwegverpackungslösungen mit PFAS dar. Die wenige Mikrometer dicke Beschichtung wird mittels konventioneller Verfahren für flüssige Beschichtungen appliziert und lässt sich zudem als Folie kaschieren. Diese Innovation könnte die Art und Weise, wie wir Verpackungen betrachten und nutzen, grundlegend verändern und den Weg für vollständig kompostierbare und recycelte Einwegprodukte ebnen.

Eine Hand ist unter einer durchsichtigen Folie zu sehen. Die algenbasierte Folie ist farblos-transparent und auch als Beschichtung für eine Vielzahl von Anwendungen nutzbar.
Die algenbasierte Folie ist farblos-transparent und auch als Beschichtung für eine Vielzahl von Anwendungen nutzbar. (Bild: Greenfoilnature)

Ein weiteres neuartiges Produkt ist ein auf Algen basierender, wasserlöslicher Klebstoff, der eine natürliche Alternative zu den bekannten, fossilbasierte Rezepturen auf PVA-Basis für eine Vielzahl von Anwendungen bietet. Seine gute Haftfestigkeit auf PE, Glas oder Papier, gepaart mit seiner Temperaturstabilität bis 120 °C machen ihn zu einer attraktiven Lösung für die Verpackungsindustrie, die Etikettierung und darüber hinaus.
Das Engagement des jungen, deutschen Unternehmens zeigt, wie durch die Nutzung spezifischer Polysaccharide aus marinen Algen, die ursprünglich für medizinische Anwendungen zur Wundheilung und Medikamentenfreisetzung entwickelt wurden, neue Wege für deren Einsatz in der Kunststofftechnik ermöglicht werden. Diese Technologien bieten nicht nur umweltfreundliche Alternativen zu fossilen Werkstoffen, sondern verbessern auch die Funktionalität und biologische Abbaubarkeit von Kunststoffprodukten.
Die Arbeit von Greenfoilnature inspiriert zu einem optimistischeren Blick auf die Zukunft der Materialwissenschaften und macht deutlich, dass die Antwort auf einige unserer dringlichsten Umweltprobleme im Meer verborgen liegen könnte – in den unzähligen, noch unerschlossenen Möglichkeiten, die Algen und andere marine Ressourcen bieten.

Interview: Nachgefragt bei Tobias Irkens und Philipp Wisse

Zwei Männer mit kurzen braunen Haaren, Dreitagebart, weißem Hemd, graues Jackett und Jeans. Tobias Irkens und Philipp Wisse (rechts)
Tobias Irkens und Philipp Wisse (rechts) (Bild: Greenfoilnature)

Wie präzise lässt sich der Zerfall von Biokunststoffen mit Ihrem System regulieren?
Tobias Irkens: Wir haben ein Baukastensystem, mit dem wir je nach Anforderung Zerfallsprozesse „programmieren“ können – sowohl auf bestimmte Auslösebedingungen hin wie zum Beispiel Wärme, pH-Wert oder Feuchtigkeitsgehalt, als auch auf die Zerfallsgeschwindigkeit. Das reicht von mehrjährigem Zerfall – wir haben dazu seit drei Jahren ein Experiment in unserem Labor laufen – bis hin zu sofortiger Desintegration.

Man könnte also zum Beispiel einen Biokunststoff, der in der Kompostieranlage zu langsam zerfällt und deshalb von den Verwertern aussortiert wird, dazu bringen, in der vom Anlagenbetreiber gewünschten Zeit zu zerfallen?
Irkens: Ja, das lässt sich machen.

Wie funktioniert das?
Irkens: Wir nutzen Inhaltsstoffe bestimmter Algen und bewährte Prinzipien aus der Pharmaforschung. In der Pharmakokinetik ist es entscheidend, dass ein Medikament zum Beispiel nach der oralen Aufnahme korrekt durch den Mund, die Speiseröhre und den Magen transportiert wird, um schließlich im Darm absorbiert zu werden, wo es seine therapeutische Wirkung entfalten kann.
Der Wirkstoff muss in einer Weise formuliert werden, damit er nicht durch Speichel, Magensäure oder Körperwärme vorzeitig freigesetzt wird. Es muss sichergestellt sein, dass er erst im Darm freigesetzt und aktiv wird, wo seine Wirkung benötigt wird. Bei Krebsmedikamenten ist der Prozess noch komplexer, da diese gezielt bestimmte Zellen ansteuern müssen.
Die Prinzipien der gezielten Freisetzung, die im menschlichen Körper angewendet werden, lassen sich auch auf Materialwissenschaften übertragen, einschließlich der Anwendung in Kunststoffen. Dies gilt nicht nur für Biokunststoffe, sondern auch für nicht abbaubare Kunststoffe. Durch die Integration von speziell entwickelten Substanzen, die als „Sprengmittel“ fungieren, können wir den Zerfall dieser Kunststoffe beschleunigen. Diese Substanzen werden gezielt aktiviert, um das Material effektiv aufzubrechen.

Sie selbst kommen aus der Pharmaforschung?
Irkens: Ja, Ich bin approbierter Apotheker und war länger in der Dentalbranche tätig, mein Mitgründer Philipp Wisse ist Ingenieur der Medizintechnik. Wir arbeiten seit etwa vier Jahren an gemeinsamen Projekten. Im Januar 2024 haben wir uns mit Greenfoilnature selbstständig gemacht. Ermutigt hat uns dazu unter anderem der „Start to Grow“ in Dortmund, wo wir auf riesiges Interesse gestoßen sind, viel Zuspruch erhalten haben und unser Netzwerk enorm erweitern konnten.

Wie kamen Sie zu den Biokunststoffen?
Philipp Wisse: Ausgangspunkt war die Entwicklung eines Aftenpatches, das Wunden im Mund abdecken und heilen sollte. Wir haben dafür Wirkstoffe und eine Trägermatrix auf Algenbasis genutzt. In einem nächsten Schritt wollten wir das Trägermaterial dünner gestalten. Heraus kam eine kristallklare, wasserlösliche Folie. Um deren Haltbarkeit einzustellen, entstand die Idee des Zerfallsregulators und später des Baukastens. Inzwischen haben wir sogar eine hauchdünne Algenfolie zum Sprühen im Angebot. Die nutzen Zahntechniker, um Kunststoffmaterial etwa beim Herstellen von Zahnschienen vom Kunststoffmodell zu trennen. Mit der Folie haben wir aber auch schon Erdbeeren eingesprüht. Die sehen dann aus wie frisch poliert und bleiben sehr lange frisch.

In welcher Form liegen die Zerfallsregulatoren vor?
Wisse: Als Pulver oder Granulat.

Wie wird der Regulator in den Kunststoff eingearbeitet?
Wisse: Per Zudosierung über die Trichter im Extruder oder der Spritzgussmaschine.

Welche Mengen davon werden benötigt?
Irkens: Materialabhängig – je nach gewünschter Zersetzungsgeschwindigkeit und Festigkeitsanspuch – 2 bis 20 %.

Können die Kosten schon ungefähr abgeschätzt werden?
Wisse: Ja, die Kilopreise sind kompatibel zu den Kilopreisen der Biokunststoffe: etwa 5 bis 20 €/kg je nach Additiv. Und je „feiner“ die Einstellung, desto höher in der Regel der Aufwand und damit auch der Preis.

Gibt es schon Erkenntnisse, ob beziehungsweise inwieweit weitere Eigenschaften durch den Regulator beeinflusst werden?
Wisse: Im Versuch mit einer Fasermatrix wurde gezeigt, dass Algen + Fasermatrix eine erhöhte Zugfestigkeit und E-Modul bewirken. Dies liegt zum einen an den Naturfasern selbst, zeigt aber auch, dass die Algen einen positiven Effekt auf die mechanischen Eigenschaften haben können.

Quelle: Greenfoilnature

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