Berechnete Bindenahtfaktoren für einen Zugstab in der Struktursimulation.

Berechnete Bindenahtfaktoren für einen Zugstab in der Struktursimulation. (Bild: IKV)

Bindenähte sind ein häufig auftretendes Problem bei spritzgegossenen Bauteilen. Schon bei geringer geometrischer Komplexität können Bindenähte aufgrund von Durchbrüchen, mehreren Angüssen oder unterschiedlichen Wanddicken im Bauteil entstehen [1, 2]. Neben dem optischen Defekt durch eine sichtbare Bindenaht ist die Reduktion der Festigkeit des Bauteils bis zur Hälfte der Grundmaterialfestigkeit ein unerwünschter Nebeneffekt [2, 3]. Das Abschwächen der Festigkeit durch die Bindenaht ist dabei abhängig von der Prozesshistorie während des Spritzgießprozesses. Bei amorphen Thermoplasten ist die Interdiffusion eigenschaftsbestimmend, bei teilkristallinen Thermoplasten ist zusätzlich die entstehende Morphologie in der Bindenaht bedeutend. Ohne eine genaue Vorhersage der entstehenden Bindenahtfestigkeit muss das Bauteil überdimensioniert werden, um ein Versagen zu verhindern. Um das Überdimensionieren oder ein Versagen des Bauteils in der Produktentwicklung zu vermeiden, ist eine Vorhersage der Bindenahteigenschaften notwendig.

Mithilfe der Spritzgießsimulation kann das Entstehen und die Lage der Bindenaht vorhergesagt werden. Aufgrund der vielfältigen Einflüsse ist das Abschätzen der Bindenahtfestigkeit hingegen meist nur qualitativ möglich. Daher wurde am Institut für Kunststoffverarbeitung (IKV) eine integrative Berechnungsroutine zunächst für amorphe Thermoplaste entwickelt, die auf Basis der Spritzgießsimulation die Reduktion der Bindenahtfestigkeit berechnet.

Spritzgegossene Platten mit Fließhindernis und Probekörperpositionen.
Spritzgegossene Platten mit Fließhindernis und Probekörperpositionen. (Bild: IKV)

Mechanische Bindenahteigenschaften messen

Um die Festigkeit von Bindenähten unter Zugbeanspruchung zu ermitteln, werden Platten mit verschiedenen Fließhindernissen wie in Bild 1 dargestellt im Spritzgießverfahren aus Polystyrol hergestellt. Zur Untersuchung des Einflusses der Prozessparameter auf die Bindenahtfestigkeit werden die Schmelzetemperatur und die Nachdruckhöhe als größte Einflussparameter auf die Bindenahtfestigkeit von amorphen Thermoplasten variiert [2, 4]. Anschließend werden jeweils in drei verschiedenen Abständen zum Fließhindernis Zugprobekörper spanend entnommen, im Kurzzeitzugversuch geprüft und anhand des Bindenahtfaktors ausgewertet. Dieser wird durch die Division der Bindenahtfestigkeit durch die Grundmaterialfestigkeit gebildet und nimmt Werte zwischen 0 bei keiner Festigkeit und 1 bei einer Bindenahtfestigkeit gleich der Grundmaterialfestigkeit an.

Bindenahtfaktor vorhersagen

Die Bindenahtfestigkeit bei amorphen Thermoplasten wird in der entwickelten Simulationsroutine auf Basis der Interdiffusion in der Bindenaht während des Prozesses, also die Diffusion der Molekülketten über die Grenzfläche hinaus, ermittelt. Dazu wurde ein Modell entwickelt, welches auf Basis der im Prozess vorliegenden Eigenschaften (Temperatur, Druck und Schergeschwindigkeit) einen Bindenahtfaktor berechnet [5].

Diese im Prozess vorliegenden Eigenschaften der Kunststoffschmelze sowie die Bindenahtposition werden zunächst mithilfe der Spritzgießsimulation bestimmt und anschließend für jeden Zeitschritt auf ein Struktursimulationsnetz exportiert. In einem nachgeschalteten Schritt wird für die Bindenahtposition der Bindenahtfaktor in Abhängigkeit der genannten Größen berechnet und für jedes Element ein Bindenahtfaktor ausgegeben. Mithilfe dieses Bindenahtfaktors in der Bindenaht kann eine Struktursimulation mit Berücksichtigung der Bindenahtfestigkeit durchgeführt werden. Bei erstmaligem Verwenden eines Materials muss die Berechnungsrou-tine einmalig kalibriert werden. Dazu wird mit empfohlenen Prozessparametern eine Prüfplatte mit Bindenaht wie in Bild 1 zu sehen hergestellt, Zugprobekörper entnommen und geprüft. Außerdem ist die Simulation des Herstellungsprozesses notwendig, um mit den berechneten Eingangsdaten und den Ergebnissen der Zugprüfung die Berechnungsroutine zu kalibrieren. Somit werden nur wenige Platten, hergestellt bei einem Prozesspunkt, und die Simulation dieses Prozesspunktes benötigt, um die Kalibrierung für ein Material vorzunehmen.

Vergleich der simulativ ermittelten Bindenahtfaktoren mit den experimentellen Ergebnissen von Polystyrol.
Vergleich der simulativ ermittelten Bindenahtfaktoren mit den experimentellen Ergebnissen von Polystyrol. (Bild: IKV)

Vergleich Vorhersage mit experimentellen Ergebnissen

Nach dem einmaligen Kalibrieren am Versuchspunkt bei empfohlenen Prozessparametern kann mit den berechneten Eingangsdaten aus der Spritzgießsimulation die Bindenahtfestigkeit für verschiedene Prozesspunkte an verschiedenen Positionen ermittelt werden. In Bild 3 sind für drei verschiedene Versuchspunkte an jeweils drei Positionen hinter dem rechteckigen Fließhindernis die experimentell bestimmten und die simulativ berechneten Bindenahtfaktoren für Polystyrol gegenübergestellt. Die Abhängigkeit der Bindenahtfestigkeit von den Prozesspunkten wird hier mit guter Übereinstimmung durch die simulative Ermittlung abgebildet. Die Proben direkt hinter dem Fließhindernis weisen die größte Festigkeit auf. Grund dafür kann eine erhöhte Schererwärmung auf Höhe des Fließhindernisses und damit eine erhöhte Schmelzetemperatur beim Auftreffen der Fließfronten hinter dem Fließhindernis sein. Dies wird durch die Simulation sehr gut abgebildet. Die mit steigendem Abstand höheren Abweichungen zum experimentellen Wert resultieren aus Einflussfaktoren wie beispielsweise einer in der Bindenaht im Vergleich zum restlichen Bauteil unterschiedlichen molekularen Orientierung, die bisher in der entwickelten Simulationsroutine noch nicht berücksichtigt werden.

Berechnete Bindenahtfaktoren in einem Biegeprüfkörper.
Berechnete Bindenahtfaktoren in einem Biegeprüfkörper. (Bild: IKV)

Bindenahtroutine in der Produktentwicklung verwenden

Die entwickelte Bindenahtroutine kann in der Produktentwicklung für die Vorhersage der Bindenahtfestigkeit verwendet werden. Um die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Lastfälle zu zeigen, wurde einmalig die am Zugversuch kalibrierte Berechnungsroutine auf eine Biegebelastung übertragen. Dazu wurden aus den Platten mit kreisförmigen Fließhindernis (Bild 1) Probekörper für die Dreipunktbiegung entnommen. Hier wurden mithilfe der Bindenahtroutine die Bindenahtfaktoren in der Bindenaht ermittelt und bei der Simulation des Biegeversuchs als Reduktionsfaktor für die Materialfestigkeit berücksichtigt. Das aufgebaute Simulationsmodell mit den Bindenahtfaktoren ist in Bild 3 dargestellt.

Der Vergleich der gemessenen Kraft-Weg-Kurve bei der Dreipunktbiegung zwischen den experimentellen Versuchen und der Simulation sind in Bild 4 rechts dargestellt. Über den gesamten Verlauf bildet die Simulation das Experiment mit sehr guter Übereinstimmung ab. Auch die Bruchkräfte in Bild 4 links stimmen gut überein. Im Gegensatz zu den Zugversuchen versagt der Probekörper direkt hinter dem Fließhindernis früher als die Proben weiter entfernt vom Fließhindernis. Dies kann auf die bei Biegeversuchen überwiegend belastete Randschicht der Probekörper zurückgeführt werden, in der die Bindenaht aufgrund hoher Abkühlraten eine besonders niedrige Festigkeit besitzt. Mögliche Orientierungen und höhere Ausheilung der Bindenaht in der Bauteilmitte haben dadurch einen geringen Einfluss. Dies wird durch die Simulation korrekt vorhergesagt. Abweichungen der Bindenahtfestigkeit stellen auch hier in Abhängigkeit des Abstands zum Fließhindernis ein. Dies verdeutlicht noch einmal, dass bisher nicht alle Einflussfaktoren auf die Bindenahtfestigkeit berücksichtigt werden.

Berechnete und gemessene Bruchkräfte im Biegeversuch sowie exemplarische Kraft-Weg-Verläufe.
Berechnete und gemessene Bruchkräfte im Biegeversuch sowie exemplarische Kraft-Weg-Verläufe. (Bild: IKV)

Bindenahtprobleme vermeiden

Mit der gezeigten Bindenahtroutine kann in einem frühen Entwicklungsstadium mithilfe der Spritzgießsimulation und anschließender Struktursimulation ein Versagen in der Bindenaht vorhergesagt werden. Dazu sind lediglich wenige Zugversuche an einem Bindenahtprobekörper erforderlich, um die Berechnungsroutine für ein neues Material zu kalibrieren. So können durch Festigkeitsvorhersage Probleme mit nicht vermeidbaren Bindenähten umgangen werden. Derzeit ist die Bindenahtroutine für amorphe Thermoplaste ausgelegt. In einem laufenden Folgeprojekt wird diese Routine für teilkristalline Thermoplaste erweitert, um die Anwendung für eine Vielzahl von thermoplastischen Kunststoffen zu ermöglichen.

Literatur

[1]      T. Nguyen-Chung, Strömungsanalyse der Bindenahtformation beim Spritzgießen von thermoplastischen Kunststoffen. Technische Universität Chemnitz, Dissertation, 2001.

[2]      S. Fellahi, A. Meddad, B. Fisa, B. D. Favis, Adv. Polym. Technol. 1995, 14 (3), 169 – 195. DOI: https://doi.org/10.1002/adv.1995.060140302

[3]      I. Kühnert, Grenzflächen beim Mehrkunststoffspritzgießen, Schriftenreihe Kunststoffe, Bd. 1, Fördergemeinschaft für den Lehrstuhl Kunststofftechnik der TU Chemnitz e.V.,

            FKTU,Chemnitz 2005.   

[4]      Z. Shayfull, N. A. Shuiab, M. F. Ghazali, S. M. Nasir, Z. Nooraizedfiza, International Journal of Engineering & Technology 2011, 11 (1), 111– 16.

[5]      J. Onken, S. Verwaayen, C. Hopmann, Polymer Engineering & Science 2021, 61 (3), 754 – 766. DOI: https://doi.org/10.1002/pen.25614

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