In Deutschland steht die Wirtschaft vor einer paradoxen Situation: Während der Fachkräftemangel als eine der größten Herausforderungen gilt, sieht sich die Unternehmenslandschaft zugleich mit einer komplexen Bürokratie konfrontiert. Die Frage, inwiefern die deutsche Bürokratie ein Hindernis für Unternehmen im Kampf gegen den Fachkräftemangel darstellt, wirft einen spannenden Blick auf die Wechselwirkungen zwischen regulatorischem Umfeld und Arbeitsmarktbedürfnissen.
Der PLASTVERARBEITER hat sich deshalb in der Branche umgehört und wollte wissen:
Die Politik in Deutschland und der EU führt immer weiter neue Regularien ein. Dies bindet personelle Kapazitäten. Wie werden Sie diesen Ansprüchen in Zeiten des Fachkräftemangels gerecht?
Gerhard Böhm: Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, setzen wir auf unsere hohe Ausbildungsquote von rund 10 Prozent. Im September 2023 haben wir wieder über 100 neue Auszubildende bei uns aufgenommen, die in der Regel später alle in ein festes Arbeitsverhältnis wechseln. Wir suchen Mitarbeitende über die ganze Bandbreite – vom Facharbeiter in der Montage bis zum Studierenden an der Dualen Hochschule. Wichtig ist, eine starke Arbeitgebermarke zu sein, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren und eine hohe Bindung der Mitarbeitenden zu erreichen. Das funktioniert bei einem innovativen und soliden Familienunternehmen wie Arburg bislang recht gut.
Als Antwort auf den Fachkräftemangel bei unseren Kunden bieten wir praxisnahe Lösungen zu Digitalisierung und Automation. Wertvolle Bausteine sind hier zum Beispiel unser Kundenportal Arburgxworld mit seinen vielfältigen digitalen Apps und Features, verschiedene Assistenzfunktionen in der Steuerung, die beim Einrichten und Bedienen von Prozessen und Maschinen aktiv unterstützen, sowie unser eigenes speziell fürs Spritzgießen entwickeltes MES. Durch direkten Informationsaustausch lassen sich mit dem Arburg Leitrechnersystem Abläufe dynamisch steuern und optimieren – und damit verfügbare Ressourcen noch effizienter nutzen, etwa bei Auftragsplanung, Qualitätssicherung, Werkzeugverwaltung oder Instandhaltung. Damit kann sich das Fachpersonal um die wirklich wichtigen wertschöpfenden Aufgaben kümmern. Genau das erwarten die Kunststoffverarbeiter von uns Maschinenherstellern.
Gerd Liebig: Die Bindung personeller Kapazitäten ist nicht das Problem und aktuell sehe ich auch für unser Unternehmen keinen Einfluss durch den Fachkräftemangel. Viel mehr Sorge macht mir die zunehmende Bürokratisierung gerade in Deutschland, die Investitionen in den Standorten immer schwieriger gestaltet. Die klaren Vorteile des Standortes Deutschland bleiben jedoch die hervorragend ausgebildeten technischen Fachkräfte. Doch hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf. Wenn nicht frühzeitig gegengesteuert wird, wird der Fachkräftemangel für die Maschinenbauproduktion ein ernstes Thema.
Zudem sehe ich mit großer Sorge die zunehmenden Überlegungen unserer Kunden, außerhalb von Deutschland zu investieren. Wir sollten uns auf unsere traditionellen Stärken wie Autoindustrie und Maschinenbau zurückbesinnen und diese fördern.
Dr. Stefan Sommer: Angesichts der stetig wachsenden Regularien und Bürokratie in Deutschland und der EU sowie der gleichzeitigen Herausforderung des Fachkräftemangels haben wir eine gezielte Strategie entwickelt, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Wir setzen auf eine effiziente Ressourcennutzung, indem wir verstärkt auf Automatisierung und digitale Lösungen im Bereich der Administration und der Produktion setzen, um repetitive Aufgaben zu minimieren und unseren Fachkräften Raum für anspruchsvolle Tätigkeiten zu schaffen.
Die kontinuierliche Weiterbildung und Qualifizierung unserer Mitarbeiter stehen bei uns im Fokus. Wir bieten gezielte Schulungen an, um sicherzustellen, dass unser Team stets auf dem neuesten Stand der sich wandelnden regulativen Landschaft bleibt und seine Fachkenntnisse ausbauen kann. Um Engpässe in unseren personellen Ressourcen auszugleichen, suchen wir aktiv nach Partnerschaften und Kooperationen mit externen Experten und Beratern. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es uns, spezifische regulatorische Anforderungen gezielt anzugehen und unsere internen Kapazitäten optimal zu nutzen.
Die Talentakquise und -bindung spielen ebenfalls eine zentrale Rolle. Wir setzen auf eine gezielte Rekrutierung hochqualifizierter Fachkräfte und schaffen ein attraktives Arbeitsumfeld, das unsere Mitarbeiter langfristig motiviert und an das Unternehmen bindet.
Insgesamt streben wir danach, eine ausgewogene Balance zwischen dem Erfüllen der regulativen Anforderungen und dem optimalen Nutzen unserer personellen Kapazitäten zu finden. Durch die Kombination aus Automatisierung, gezielter Weiterbildung, strategischen Kooperationen und einer zielgerichteten Talentakquise sind wir zuversichtlich, den Herausforderungen der sich wandelnden Regularien in Zeiten des Fachkräftemangels erfolgreich zu begegnen.
Muhammed Kakis: Die zunehmenden Regularien stellen zweifellos eine Herausforderung dar. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, investieren wir kontinuierlich in die Weiterbildung und Qualifizierung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um stets auf dem neuesten Stand zu sein. Zudem setzen wir verstärkt auf den Einsatz digitaler Technologien und Automatisierung, um Prozesse effizienter zu gestalten und personelle Kapazitäten optimal einzusetzen. Darüber hinaus pflegen wir enge Kooperationen mit Bildungseinrichtungen, um auch in Zeiten des Fachkräftemangels talentierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für unser Unternehmen zu gewinnen.
Michael Wittmann: Wir erfüllen die gesetzlichen Verpflichtungen zu den diversen Regularien, Meldeplattformen und Berichtspflichten mit internem Personal, verstärkt um externe Beratungsfirmen, die sich auf die jeweiligen Fachbereiche spezialisiert haben. Die Anforderungen der EU und der nationalen Politik bezüglich Regularien stellen schon heute eine große Herausforderung dar und werden in den nächsten Jahren noch weiter steigen.
Das bindet nicht nur nicht-produktive Kapazitäten, sondern führt unweigerlich zu Fragen der Sinnhaftigkeit. Ein Beispiel dafür ist das Lieferkettengesetz, welches ab 1.1.2024 für Firmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern schlagend wird. Der gutgemeinte Ansatz der Politik, dass solche, im internationalen Wettbewerb relativ kleinen Firmen, einen Einfluss auf ihre etwaigen außereuropäischen Lieferanten haben könnten, ist eine realitätsferne Annahme. Schon die Einholung der notwendigen Zusagen von Lieferanten wird eine große organisatorische und personelle Herausforderung darstellen. Weitere Herausforderungen stellen die ESG-Berichtspflicht, sowie die in Kürze gültige Meldepflicht für das CO2-Grenzausgleichssystem dar.
Jürgen Schwarz: Bei SAR sind wir stets pragmatisch unterwegs. Rechtliche Regularien sind natürlich strickt umzusetzen. Zusätzliche Zertifizierungen und Paperwork, vor allem für Lieferantenplattformen schauen wir uns jedoch sehr ergebnisorientiert an. Einige dieser Regularien helfen uns jedoch sogar, effektiver und nachhaltiger unsere Prozesse zu optimieren. Nur im Einzelfall schränkt dies die Agilität des Unternehmens ein. Was wir im Kernportfolio der SAR mit unseren Fachkräften nicht abdecken können, das Handhaben wir immer öfter gemeinsam mit unseren Partnern innerhalb der SAR Gruppe.
Prof. Dr.-Ing. Holger Ruckdäschel: Regularien sind die Grundlage für ein faires und sicheres Miteinander. Die zunehmende Flut an Vorschriften erweist sich aber mittlerweile als spürbarer Wettbewerbsnachteil für deutsche und auch europäische Unternehmen. Auch die NMB als Forschungseinrichtung leidet unter den Auswüchsen der Regulierungswut. Immerhin hat die Politik dies aktuell erkannt und verspricht einen Abbau von Bürokratie.
Noch mehr als die Bindung personeller Kapazitäten durch Überregulierung beschäftigt uns die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt für wissenschaftliche und technische Fachkräfte: Die demografische Entwicklung mit immer weniger jungen Menschen, verbunden mit einem nachlassenden Interesse an einer Ausbildung oder einem Studium in MINT-Fächern wird uns alle absehbar vor große Herausforderungen stellen. An den Universitäten ist dieser Trend bereits deutlich spürbar.
Unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind uns sehr wichtig. Daher ermöglichen wir als moderner Arbeitgeber beispielweise mobiles Arbeiten, Flexitime, Weiterbildungsangebote und angepasste Vergütungsmodelle. Zudem kümmern wir uns frühzeitig um Nachwuchs. Wir bieten Schülerpraktia an und ermöglichen Schnupperbesuche von Schulklassen, um auf diese Weise schon frühzeitig das Interesse an einer Mitarbeit in einer technischen Forschungseinrichtung zu wecken. Wir beteiligen uns auch am Mädchen-Zukunftstag Girl´s Day. Dass wir dabei erfolgreich sind, zeigt beispielsweise unser hoher Anteil an weiblichen Beschäftigten von rund 40 Prozent.
Weiterhin bieten wir für Studierende die Möglichkeit, ihre akademischen Arbeiten im Rahmen einer Beteiligung in Projekten der NMB anzufertigen und somit frühzeitig Industrieluft zu schnuppern.
Alfred Schiffer: Wir sind bereits gesetzlich verpflichtet, unzählige „Beauftragte“ zu installieren. Überwiegend haben wir uns hier leistungsfähigen Anbietern bedient. Diese können sich effizienter bei den jeweiligen Themen schulen und auf dem Laufenden halten. Wir wollen uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren und hier besonders gut sein. Klar, all die gesetzlichen Anforderungen kosten Geld. Das muss letztendlich unser Kunde bezahlen und wir verlieren mit jedem unproduktiven Verwaltungsakt an weltweiter Wettbewerbsfähigkeit.
Die Industrie in Deutschland kann den vielfach zitierten Fachkräftemangel letztendlich nur dadurch ausgleichen, dass Automationen verstärkt zum Einsatz kommen. In den Bereichen, wo Automationen aus Gründen der Stückzahlen oder sonstigen Anforderungen nicht möglich sind, wird es in Zukunft große Herausforderungen geben, um diese Produktionen in Deutschland aufrecht erhalten zu können. Insofern wird die bedarfsorientierte Politik mit darüber entscheiden, wie erfolgreich und stark der Standort Deutschland bleibt.
Prof. Dr. h.c. Werner Koch: Unser Unternehmen setzt konsequent auf moderne Führungsformen, um dem anhaltenden Fachkräftemangel erfolgreich zu begegnen. Wir verstehen, dass die heutigen Arbeitskräfte nach mehr als nur einem Job suchen – sie suchen nach einem inspirierenden und unterstützenden Umfeld, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Durch den Einsatz fortschrittlicher Führungsansätze, die auf Mitarbeiterentwicklung, Flexibilität und individuelle Förderung setzen, schaffen wir die Grundlage für ein attraktives Arbeitsumfeld, das Talente anzieht und bindet. Während wir uns auf die Zukunft und unsere Innovationsbemühungen konzentrieren, sehen wir auch die Herausforderungen, die das Fehlen eines umfassenden wirtschaftlichen Verständnisses seitens der deutschen Politiker mit sich bringt. Die Gefahr einer Rezession ist real, und wir sind der Meinung, dass ein tieferes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge von entscheidender Bedeutung ist, um zukünftige Herausforderungen zu bewältigen.
Dr. Thomas Wolff: Das trifft in der Tat auch auf uns Forschungseinrichtungen zu. Der administrative Aufwand steigt ungemein, um beispielsweise die Förderfähigkeit unserer Initiativen nachzuweisen. Damit werden Fachkräfte von ihrem eigentlichen Kerngeschäft abgehalten. Ein Personalaufwuchs ist aufgrund des Kostendrucks keine Option, also leidet die Effizienz für die inhaltlichen Arbeiten. Bisher können wir die Last noch abfangen, das liegt allerdings an unseren engagierten Mitarbeitern und ich bin dankbar, dass alle so viel Herzblut in die Arbeit stecken. Das ist im Übrigen für mich ein Zeichen, dass viele Menschen in der Branche von der Sinnhaftigkeit unseres Tuns überzeugt sind – was mich trotz derzeit vieler negativer Signale wieder positiv stimmt.
Yong Li: Regulatorische Änderungen sind ein normaler Teil des Geschäftslebens und werden von Krauss Maffei auch so gemanagt. Je nachdem, was gefordert ist, helfen unseren Experten dabei heute auch softwaregestützte Tools, zum Beispiel bei der Risikobewertung unserer Lieferkette im Rahmen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes.