Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die zu Jahresbeginn 2008 die europäischen Unternehmen erfasste, war für den Coburger Kunststoffverarbeiter Gaudlitz wie ein Denkzettel, beschleunigt über seine Branchenausrichtung nachzudenken. Das Unternehmen, das mit seinen mehr als 500 Mitarbeitern und 150 Spritzgießmaschinen in drei Produktionsstätten – in Deutschland, Tschechien und China – fertigt, hatte sich sehr stark als Automobilzulieferer positioniert. Hergestellt werden vor allem Getriebegehäuse mit sehr hohen dimensionellen und mechanischen Anforderungen. Mit der Krise lahmte vor allem das Automobilgeschäft, das Standbein des Unternehmens; wegen dieser Flaute mussten einige Arbeitsplätze abgebaut werden. Der Kunststoffverarbeiter produzierte damals aber auch schon mehrere Produkte für namhafte Firmen der Medizintechnik-Branche in Auftragsfertigung. Ein Anfang war also im Prinzip schon gemacht, und noch 2008 beschloss das Unternehmen, „einen neuen Geschäftsbereich Medizintechnik zu gründen und zum zweiten Standbein auszubauen“, erklärt der Geschäftsführer Jens René Lübben, der früher bei einem großen deutschen Medizintechnik-Hersteller tätig war.
Der neue Geschäftsbereich sollte nicht nur im Kundenauftrag medizintechnische Bauteile oder ganze Systeme entwickeln und fertigen, sondern auch selbst als Systemanbieter auftreten. Diese Entscheidung zur Gründung des neuen Geschäftsbereiches fiel auch vor dem Hintergrund, dass im Automotive-Geschäft „die Margen dünn sind und der Preisdruck aber weiterhin hoch ist“, so Lübben. Mit der Zielsetzung, Medizintechnik als einen neuen Geschäftsbereich aufzubauen, wolle sich Gaudlitz aber nicht aus dem Automobilgeschäft zurückziehen, betont Lübben. „Wir wollen es ergänzen, um auch in einer Krise mit einem zweiten Standbein wirtschaftlich stabiler zu sein“. Zielsetzung sei, dass die Medizintechnik im Laufe der nächsten fünf bis sechs Jahre einen ähnlichen Umsatzanteil erreicht wie das Automobilgeschäft.
Das Konzept für den Start
Die ersten Erfahrungen mit medizintechnischen Produkten hatte der Kunststoffverarbeiter bereits gemacht und wusste, dass es länger dauert, die Kunden aus der Medizintechnik als die anderer Branchen zu überzeugen. „Man benötigt mehr Zeit, Engagement und Durchhaltevermögen, aber dafür ist die Geschäftsbeziehung in der Regel dauerhafter“, erklärt Lübben.
Aufgrund der bereits vorhandenen, langjährigen Kompetenz des Unternehmens im Kunststoff- und Werkzeug-Metier, wurde der Entschluss gefasst, im Bereich Medizintechnik eigene Produkte zu entwickeln und zu vermarkten. Um die unternehmerischen Zielsetzungen in der Medizintechnik umzusetzen, gab sich Gaudlitz ein klares Programm:
- Hochrüstung des bisherigen Sauberraums zur Spritzgießfertigung auf einen 400m2 großen Reinraum der Klasse 8 nach DIN ISO 14644/1
- Gründung einer medizintechnischen Entwicklungsabteilung
- Einrichtung einer Vertriebsabteilung für medizintechnische Produkte
- Entwickeln einer Strategie für den Geschäftsbereich mit Projektmanage-ment und Projektplanung sowie Marktanalysen
Der erste Meilenstein, über einen klassifizierten Reinraum zu verfügen, wurde im August 2009, mit der Zertifizierung des Reinraums erreicht. In dem 400m2 großen Abschnitt stellt das speziell geschulte Personal an sieben Spritzgießmaschinen mit einer Zuhaltung zwischen 15 und 150t vor allem medizinische Einmalartikel und Verbrauchsmaterialien für den Laborbereich her. „Diese Fertigung entspricht damit den Vorschriften und Richtlinien der Zertifizierung DIN ISO 13485“ erläutert Lübben.
Das erste eigene medizintechnische Entwicklungsprojekt beginnt
Ein eigenes medizintechnisches Entwicklungsprojekt gelangte zu Jahresbeginn 2008 zu Gaudlitz, noch bevor ein Konzept für die strategische Ausrichtung des Geschäftsbereiches aufgesetzt war. Ein Kunde des Kunststoffverarbeiters wollte ein Stuhlaufbereitungsröhrchen für human- und veterinärmedizinische Proben entwickeln – einen kleinen Kunststoffbehälter, der die Probe aufnimmt und nach Zugabe von Reagenzien eine laboranalytische Untersuchung möglich macht. Der Kunde wollte die Entwicklungskosten jedoch nicht alleine tragen – das war die Chance für den Kunststoffverarbeiter, selbst in die Entwicklung einzusteigen. „In dieser Situation, die für uns etwas früh kam, haben wir zugegriffen“, erklärt Lübben. „Wir wurden so der Systementwickler und der Kunde zum Entwicklungspartner und einem Abnehmer des Stuhlaufbereitungsröhrchens.
In den folgenden Verhandlungen haben wir uns dann den Weg offen gehalten, dieses Testsystem auch an andere Unternehmen, die solche Produkte vertreiben, zu vermarkten. Damit wollen wir die Entwicklungskosten wieder einspielen.“ Neben diesem Stuhlaufbereitungsröhrchen hat der Kunststoffverarbeiter inzwischen ein weiteres Testsystem in der Entwicklung und neue Projekte auf den Weg gebracht. Lübben: „Erfreulicherweise werden wir bei diesen Entwicklungsprojekten durch unsere Muttergesellschaft – die H&R Wasag – unterstützt, denn alleine könnten wir die hohen Entwicklungskosten kaum stemmen.“
Ausgangspunkt für die Neuentwicklung des Stuhlaufbereitungsröhrchens waren verschiedene Unzulänglichkeiten von anderen Systemen, die bereits auf dem Markt waren. Die Idee und grundlegende Punkte des Anforderungsprofils für das neu zu entwickelnde Testsystem kamen von dem Entwicklungspartner von Gaudlitz. Drei Faktoren waren für das Stuhlaufbereitungsröhrchen wesentlich:
- Es darf keine beliebige, sondern es muss eine genau definierte Menge der Stuhlprobe enthalten, damit die Analysenergebnisse eindeutig ausfallen.
- Es muss absolut dicht und verschlusssicher sein.
- Es muss im Labor sehr einfach zu handhaben sein.
- Es muss von der Größe her gesehen gut in die Test-Trays passen.
Die ersten sechs bis acht Monate bei diesem Projekt waren eine reine Konzeptphase. Nach dem Anforderungsprofil wurde das Röhrchen entwickelt, zusätzlich wurden Anwender beziehungsweise Laborgemeinschaften befragt, welche Bedürfnisse sie an das Produkt haben. Daraus wurde klar, dass die einfache Handhabung des Systems, die Mediumdichtheit und die definierte Probenmenge von größter Wichtigkeit waren. Für die Handhabbarkeit lautete das Entwicklungsziel, dass der Verschluss mit einer Hand durch Drehen von Daumen und Zeigefinger lösbar und zu öffnen sein sollte, damit man die erforderlichen Reagenzien mit der anderen Hand zugeben konnte. So wurde zusammen mit der internen Werkzeugbauabteilung, die 55 Mitarbeiter hat, ein erstes Aufbereitungsröhrchen entworfen und mittels Rapid Prototyping ein Demonstrator-System gebaut. „Das war sehr wichtig, um die Handhabung zu erproben und verschiedene Optimierungen vornehmen zu können“, erklärt Lübben. So resultierten aus den Versuchen mit diesem Demonstrator wichtige Verbesserungen in der Geometrie der Bauteile: Sie betrafen die Dichtheit des Testsystems als auch dessen einfachere Handhabbarkeit. Das System selbst bestand aus einer transparenten Hülse, einem Adapter und einer Verschlusskappe. „Und wir bekamen mit dem Demonstrator-System das sichere Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein“, setzt Lübben nach.
Die Verbesserungen wie eine neu hinzugekommene Bajonettlösung, die ein schnelles Öffnen und Schließen des Testsystems erlaubte, wurden zügig umgesetzt, sodass im Frühjahr 2009 die ersten Musterbauteile mit selbst entwickelten Prototypenwerkzeugen hergestellt werden konnten. Mit diesem Testsystem konnten nun Praxistests durchgeführt werden wie auch geringfügige Verbesserungen am Material – durchweg Polypropylen – umgesetzt werden. „Dabei hat sich gezeigt, dass unsere Materialauswahl sehr zielsicher war“, berichtet Lübben. Im Seriensystem wurde dann noch eine feine Oberflächenstrukturierung sowie leicht greifbare Rillen in der Außenkontur angebracht, sodass ein Umgang mit Schutzhandschuhen benutzerfreundlicher wird. Neben dem mediumdichten Verschluss aller Bauteile ermöglicht die spezielle Geometrie des Probenaufnahmestabes eine sichere Aufnahme der Probe. Im Zusammenspiel mit dem Adapter erfolgt eine exakte Dosierung des Probenmaterials, wobei überschüssiges Material in einer Adapterkammer auslaufsicher untergebracht wird.
Auf der Straße zum Erfolg
Insgesamt, so resümiert Lübben zufrieden, sei das Entwicklungsprojekt „fast planmäßig, zumindest ohne größere Störungen abgelaufen“.Mittlerweile wird das Testsystem über zwei weitere Unternehmen europaweit vertrieben. Hergestellt werden die Bauteile mit vier Mehrkavitätenwerkzeugen, für jedes Bauteil ein Werkzeug. Bis das Stuhlaufbereitungsröhrchen wirklich rentabel wird, ist der Weg aber noch recht weit: „Vier Millionen Stück sind das Ziel“, sagt Lübben, „jetzt müssen wir beschleunigen, auf der richtigen Straße sind wir ja schon“.
Erhöhte Marktchance
Exklusiver Club, aber anhänglich
Es ist nichts Neues, dass ein wirtschaftliches Standbein zuverlässig dann kritisch wird, wenn eine Krise kommt. Wenn das Standbein zudem in der Automobilzulieferbranche steht, ist besondere Vorsicht angebracht. Zwar ist das Volumen groß, aber die Margen sind schwach und Kosteneinsparungen in der Produktion verschaffen den Kunststoffverarbeitern meist keinen Verdienst, denn von den Einsparungen des Verarbeiters will der Automobilhersteller durch niedrigere Einkaufspreise profitieren. Ein hartes Brot also. Und schon manchen Kunststoffverarbeiter haben diese Umstände in den Ruin getrieben. Ein zweites Standbein mit wirtschaftlich erfreulicheren Perspektiven ist deshalb ratsam. Dazu braucht man einen Geschäftsplan, genügend Investitionsmittel und – jedenfalls wenn es die Medizintechnik ist – Durchhaltevermögen, um sich in diesem „exklusiven Club“ zu etablieren. Für die etwas längere Wartezeit bis zur Aufnahme wird der Kunststoffverarbeiter meist mit einer dauerhaften Geschäftsbeziehung belohnt.