Herr Dr. Wittmann, wie ist Ihr Blick als langjähriges Mitglied der Kunststoffindustrie auf die derzeitige Situation der Branche?
Dr. Werner Wittmann: Die Situation ist weiterhin schwierig – aufgrund der schon lange anhaltenden Investitionszurückhaltung und der sich zum Teil verschlechternden Standortbedingungen hier in Zentraleuropa. Dabei möchte ich betonen, dass die Kunststoffindustrie eine Wachstumsbranche ist und bleiben wird. Die Frage ist aber, wo das Wachstum stattfinden wird. Ich gehe davon aus, dass wir in Europa mit einer Stagnation rechnen müssen, während es beispielsweise in den USA, in Mexiko und natürlich auch in Asien Zuwächse geben wird. Als Wittmann Gruppe stellen wir uns genau darauf ein, unter anderem mit der weiteren Dezentralisierung unserer Produktionsstandorte. Wir haben zuletzt in Ungarn, der Türkei und Indien investiert und sind aktuell dabei, die Kapazität in China zu erweitern und den Standort auf den Bau von Spritzgießmaschinen vorzubereiten.
Aufgrund des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes planen Unternehmen die Produktion wieder zurückzuverlagern beziehungsweise mit europäischen Lieferanten zusammenzuarbeiten. Wie ist hierzu Ihre Einschätzung?
Dr. Wittmann: Obwohl wir nach der letzten Anpassung durch das EU-Parlament nicht unter das Gesetz fallen, beschäftigen wir uns seit einiger Zeit intensiv damit. Schließlich sind auch einige unserer Kunden betroffen. Die Frage, die sich stellt, ist: wo kann ich überhaupt noch etwas beziehen, das ich tatsächlich kontrollieren kann? Ich erachte die Kontrolle im Sinne des Lieferkettengesetzes schwierig bis unmöglich. Das ist ein weiteres Beispiel für die Überregulierung in Europa, wodurch wirtschaftliches Wachstum reduziert oder gar abgeschnitten wird. Ich bin ziemlich skeptisch, ob das Lieferkettengesetz die vom Gesetzgeber gewünschte Wirkung zeigen wird. Zumal ja die Haftungen, die sich aus dem Gesetz ergeben, von größeren Firmen an ihre Lieferanten weitergereicht werden. – Eine Entwicklung, die sehr wahrscheinlich nicht im Interesse des Gesetzgebers ist. Prinzipiell verfolgt das Gesetz eine gute Absicht, nur müssten dafür alle Regionen in der Welt mitmachen. Für die betroffenen Unternehmen verursacht das Lieferkettengesetz einen enormen administrativen Aufwand, der sich letztendlich auf den Teilepreis niederschlagen wird. Andere Länder haben diesen Aufwand nicht, beliefern aber dennoch ebenfalls die europäischen Kunststoffverarbeiter. Deshalb kann ich es nur noch einmal betonen, dass ich das sehr kritisch sehe. Was nutzt es, wenn wir uns in Europa auf die höchsten Standards begeben, wenn zum Beispiel Unternehmen in China, die immer stärker zu wirklich dominanten Mitbewerbern werden, nicht mitmachen müssen? Auf diese Weise wird der Wirtschaftsstandort Europa gefährdet.
Wie sehen Sie das mögliche PFAS-Verbot?
Dr. Wittmann: Um es salopp zu sagen: Da schneiden wir uns erneut ins eigene Fleisch und mindern unsere Wettbewerbsfähigkeit im Maschinenbau. Auch hier haben wir die Situation, dass dem Verbot eine gute Absicht und sicher auch Notwendigkeit zugrunde liegt. Nur müssen wir differenzieren: PFAS in kurzlebigen Produkten oder im direkten Kontakt mit Nahrungsmitteln und Menschen sind kritisch zu sehen. PFAS als Bestandteil von Komponenten, die in Maschinen eingebaut und typischerweise ordnungsgemäß entsorgt werden und nicht in der Umwelt landen, sollten aber von einem Verbot ausgenommen sein. Welche anderen Länder machen sich ähnliche Gedanken um PFAS? Viele Länder der Welt, vor allem in Asien, sind vorrangig bestrebt, den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen. Und auch dort werden Maschinen gebaut und auch dort wird Kunststoff verarbeitet – aber eben ohne diese Auflagen und Zusatzkosten. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass diese vielen Regularien viele Kapazitäten binden – finanzieller und personeller Art.
Was Sie über PFAS wissen müssen
Fluorpolymere und weitere fluorhaltige Substanzen sollen verboten werden. Eine ihrer herausragenden Eigenschaften – die Beständigkeit – könnte ihr Verbot bedeuten. Für Sie haben wir das Thema PFAS aus verschiedenen Blickwinkeln während der Widerspruchsfrist beleuchtet und halten Sie künftig zu PFAS-Alternativen auf dem Laufenden. Alles, was Sie zum Thema wissen sollten, erfahren Sie hier.
Eine weitere, viel diskutierte Ressource ist die Energie. Wittmann bietet den Kunststoffverarbeitern zwischenzeitlich einen ganzen Blumenstrauß an Energieeinsparmaßnahmen. Wird es noch weitere Entwicklungen geben?
Dr. Wittmann: Natürlich wird es weitere Entwicklungen geben, denn je mehr man sich mit dem Thema Energieeffizienz befasst, umso mehr Möglichkeiten eröffnen sich. Und ich sehe schon, dass wir als Gesamtanbieter besonders viele Hebel haben, den Energieverbrauch beim Spritzgießen weiter zu reduzieren. Daran arbeiten wir kontinuierlich. Energieeffizienz ist ein ganz, ganz wichtiges Thema, für das ich mich auch persönlich einsetze. Unabhängig davon, wo die Maschine oder die Produktionszelle betrieben wird, muss diese energieeffizient sein. Das darf nicht vom Strompreis abhängen. Als Gesamtanbieter von Maschine, Peripherie und Automatisierung haben wir sehr gute Voraussetzungen, wirklich alle Effizienzpotenziale auszuschöpfen.
Ein Beispiel für die kontinuierliche Weiterentwicklung ist, dass wir sukzessive alle Geräte mit Ecodrive, also einer lastabhängigen Leistungsregelung, ausrüsten. Neu ist das Mobiltrocknermodell Drymax plus mit Ecodrive, das wir auf den Competence Days präsentiert haben. Sehr spannend unter dem Gesichtspunkt der Energieeffizienz ist auch das Thema DC-Technologie. Wir haben es möglich gemacht, eine Spritzgießproduktionszelle mit Gleichstrom, der ohne Wandlungsverluste aus einer Photovoltaikanlage kommt, zu versorgen. Auch hier präsentierten wir auf den Competence Days den nächsten Entwicklungsschritt.
Welcher Anteil wird bei den weiteren Entwicklungen der künstlichen Intelligenz zukommen?
Dr. Wittmann: Der Anteil nimmt zu, denn KI eröffnet viele neue Chancen. Wir sehen großes Potenzial bei der Unterstützung des Verarbeiters und Maschinenbedieners zum Beispiel, wenn es um die Verwaltung von Werkzeugdaten sowie die Analyse von Prozessdaten geht mit dem Ziel, die optimalen Prozessparameter zu ermitteln und den Prozess kontinuierlich zu verbessern. Ein weiteres Beispiel ist die Erstellung von Ablaufprogrammen für Roboter, wofür wir heute schon einen digitalen Zwilling anbieten. Darüber hinaus sind neue Serviceangebote ein Fokus von KI-Anwendungen. So haben wir auf den Competence Days erstmalig AIM4Help vorgestellt. Das ist eine Wissensplattform für technische Anfragen und das Trouble Shooting, die wir als First-Level-Support unseren Kunden zukünftig über ein Webportal zur Verfügung stellen werden. Trainiert wird diese KI mit sämtlichen Dokumentationen, Beschreibungen, technischen Unterlagen und Fehleranalysen, die Wittmann über die gesamte Unternehmenshistorie angelegt hat. Damit umfasst AIM4Help das langjährige Wissen unserer Techniker und Entwickler.
Sonderausgabe "Grüne Industrie"
Die Schwelle zu einer industriellen Revolution, die Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit vereint, steht bevor. Unsere Sonderausgabe "Grüne Industrie" bietet exklusive Einblicke und praktische Lösungen, die den Wandel hin zu nachhaltigeren Produktionsweisen erfolgreich gestalten helfen.
"Grüne Industrie" erschien am 17. Juli 2024. Bestellen Sie jetzt Ihr Exemplar und setzen Sie den ersten Schritt in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft.
Herr Wittmann, Sie blicken auf fast 50 Jahren Kunststoffverarbeitung zurück. Was waren für Sie wirkliche Meilensteine?
Dr. Wittmann: Für das Unternehmen hatte ich früh die Vision, unser Programm konsequent auszubauen. Begonnen beim Durchflussregler über Peripheriegeräte und Roboter bis zur Trocknung und dann sogar zur Spritzgießmaschine. Mir war klar, es braucht das Gesamtangebot. Ich war nie ein Händler, sondern immer Produzent und wollte Produkte in der Hand halten und entwickeln, die wirklich einen Nutzen bringen. So kamen komplexere Automatisierungsprozesse und Themen wie Energieeffizienz hinzu und sind immer wichtiger geworden. Es war eine harmonische Entwicklung. Am Anfang ging es darum, mit Robotern den Personaleinsatz zu reduzieren. Dann wurde über die gesamte Nachbearbeitung nachgedacht – integriert in einer Fertigungszelle. Und heute haben wir viele Anwendungen, bei denen Automatisierung und Prozessintegration unverzichtbar für die geforderte Effizienz und Qualität sind.
Lange Zeit wurde auch gesagt, dass die Polyolefine durch die technischen Kunststoffe ersetzt werden. Faszinierend finde ich, dass dem nicht so ist, sondern dass vielmehr die Eigenschaften der Polyolefine durch entsprechende Additivierung verbessert wurden. Die Entwicklung der Werkstoffe ist gigantisch. Sie hat gezeigt, was man aus Kunststoffen alles herstellen kann und welches Potenzial in diesen Werkstoffen steckt. Traurig macht mich, dass der Kunststoff einen so schlechten Ruf bekommen hat, aufgrund nicht sachgerechter Entsorgung und mangelnden Recyclings. Das muss besser gesteuert werden, um Kunststoffmaterial länger im Kreislauf zu halten, bevor es thermisch verwertet wird. Was ich ebenfalls bedauere ist, dass sich die Biokunststoffe aus diversen Gründen noch nicht besser am Markt durchgesetzt haben. Das Verarbeiten im Spritzguss ist möglich, das zeigen zahlreiche Versuchsreihen – auch in unserem Haus –, und es gibt ja einige Praxisbeispiele. Leider aber sind es – größtenteils aus wirtschaftlichen Gründen – nur wenige Produkte, die am Markt tatsächlich eingeführt wurden und in Serie produziert werden.