Das System fotografiert jeden in der Turnkey-Anlage produzierten Reifenheber und speichert daraufhin den einzigartigen Bauteil-Fingerabdruck zur späteren Identifizierung in einer Datenbank.

Das System fotografiert jeden in der Turnkey-Anlage produzierten Reifenheber und speichert daraufhin den einzigartigen Bauteil-Fingerabdruck zur späteren Identifizierung in einer Datenbank. (Bild: Arburg)

Das Spritzgießen von Kunststoffkomponenten ist ein komplexer Prozess mit zahlreichen Einflussfaktoren. Die präzise Rückverfolgung der produzierten Einzelteile ist daher nicht nur ein wichtiges Instrument zur Überwachung und Dokumentation der Fertigung, sondern sie erlaubt auch eine deutlich effizientere Analyse bei Qualitätsproblemen. Entscheidend ist hierbei das möglichst vollständige, individuelle Zuordnen der Spritzgießparameter sowie der später anfallenden Fertigungs- und Qualitätsdaten zu jedem einzelnen Bauteil. Mithilfe passender Analysen, gegebenenfalls unter Einsatz künstlicher Intelligenz, können diese Datensätze dann zielgerichtet ausgewertet werden, um das Prozessverständnis zu verbessern und die Ursachen für Ausschuss oder Reklamationen schneller zu finden. Beschriftungen sind zur Bauteilrückverfolgung am weitesten verbreitet. Ein Datumstempel im Spritzgießwerkzeug ermöglicht jedoch nur eine chargenweise Zuordnung, während individuelle Beschriftungen wie ein per Laser aufgetragener Data-Matrix-Code häufig mit hohen Investitionskosten, einem durch die Beschriftung limitierten Prozesstakt, Pseudo-Ausschuss durch nicht lesbare Markierungen sowie hohem Aufwand für Wartung und Arbeitsschutz einhergehen. Eine neuartige Technologie von Detagto, bei der vorhandene Oberflächenstrukturen eines Bauteils als Fingerabdruck zur Einzelteilverfolgung verwendet werden, ist eine vielversprechende Ergänzung.

Wie die Einzigartigkeit erkannt wird

Im Spritzguss wird in der Regel eine einheitliche Oberflächenqualität bei allen Teilen angestrebt. Trotzdem entstehen aufgrund von stochastischen Prozessen wie dem Fluss der Kunststoffschmelze oder der räumlichen Verteilung von Additiven oft einzigartige Strukturen an den Bauteiloberflächen. Diese Oberflächencharakteristika unterscheiden sich selbst bei Teilen aus demselben Werkzeug und derselben Kavität. Diese Strukturen werden beim Verfahren von Detagto mithilfe einer handelsüblichen Industriekamera erfasst. Anschließend komprimiert die spezielle Bildverarbeitung die Oberflächeninformation auf etwa ein Kilobyte Datengröße. Im Betrieb wird demnach kein Bild, sondern nur die komprimierte Repräsentation der Oberfläche gespeichert – weniger als ein Tausendstel der originalen Bildgröße. Dadurch erfolgt die Bauteilidentifikation in Bruchteilen einer Sekunde, und das Verfahren ist aufgrund der geschickten Auswahl der Oberflächeninformationen robust gegenüber Umgebungslicht und Oberflächenveränderungen. Die markierungsfreie Einzelteilverfolgung im Spritzguss wurde von Detagto und Arburg gemeinsam auf verschiedenen Messen präsentiert, wie auf der Fakuma 2023 in einer Turnkey-Anlage zur vollautomatisierten Fertigung und Montage von Fahrrad-Reifenhebern. Die Turnkey-Anlage und der Fertigungsprozess existierten bereits vor dem Einbau der neuen Rückverfolgung. Bei der Nachrüstung wurde die Kamerabox (Maße 212 x  107 x 65 mm) über ein Standard-Aluminium-Profil im Turnkey-Raum angebracht. In Bezug auf die Automatisierung wurden ein Spannungspuls durch die Anlagensteuerung zum Triggern der Kamera eingerichtet und das Bauteilhandling des Roboters angepasst, sodass die Oberfläche jedes produzierten Reifenhebers fotografiert wird. Ansonsten blieb die Hardware – Spritzgießprozess, Material, Werkzeug und Bauteil – gegenüber der bestehenden Anwendung unverändert.

Was kann zum Identifizieren dienen?

Die Reifenheber werden aus einem PA6.6 mit Glasfaseranteil gefertigt, sodass sich die Individualität der Oberfläche vor allem durch die stochastische Verteilung der Glasfasern erklären lässt. Bei anderen Spritzgussteilen können auch zufällige Strukturen wie eine Pigmentierung, Schlieren, Bindenähte oder das Abrissmuster am Anspritzpunkt zur Einzelteilerkennung genutzt werden. Im Fall hybrider Produkte mit Einlegeteilen wie Blechen oder elektrischen Kontaktstiften kann auch deren Oberfläche zur Identifizierung verwendet werden. Beim Reifenheber stellt die raue, erodierte Werkzeugoberfläche eine besondere Herausforderung dar, da diese auf jedes Teil übertragen wird. Mit dem bloßen Auge sind an der Oberfläche keine Unterschiede erkennbar, dennoch ermittelt die Software genügend individuelle Merkmale, um jeden einzelnen Reifenheber eindeutig identifizieren zu können. Die Identifikationsfläche ist dabei rund 18 x 10 mm. Unter Verwendung geeigneter Kameraoptiken sind auch kleinere Oberflächenbereiche möglich. In einer anderen Anwendung wurde beispielsweise eine Identifikationsfläche von etwa 1 mm² erfolgreich umgesetzt.

Mehrere Reifenheber. Spritzgießteile wie die Reifenheber aus PA6.6GF können auch ohne Veränderung am Prozess oder Bauteil einzigartige Oberflächenstrukturen besitzen und damit einzeln identifiziert beziehungsweise rückverfolgt werden.
Spritzgießteile wie die Reifenheber aus PA6.6GF können auch ohne Veränderung am Prozess oder Bauteil einzigartige Oberflächenstrukturen besitzen und damit einzeln identifiziert beziehungsweise rückverfolgt werden. (Bild: Arburg)

So werden die Daten kommuniziert

Das Zuordnen der Spritzgießparameter eines Schusses zum entsprechenden Reifenheber erfolgt durch die bidirektionale Datenübertragung zwischen dem Arburg Turnkey Control Module (ATCM) und der Detagto-Software via OPC UA. Darüber hinaus ermöglicht eine Rest-API die einfache Interaktion mit anderen Softwaresystemen wie Shopfloor- oder MES-Systemen. Die Software von Detagto ist eine Serverapplikation und kann flexibel auf einer Workstation, einem lokalen Server oder in der Cloud laufen. Über eine Benutzeroberfläche im Browser lassen sich alle installierten Kamerasysteme zentral steuern und überwachen. Die Verbindung wird über Ethernet realisiert. Zur Registrierung eines Reifenhebers sendet die Spritzgießanlage am Ende des Herstellungsprozesses über das ATCM eine eindeutige Seriennummer an das Detagto-System. Unmittelbar danach wird die Bildaufnahme getriggert. Die Software verknüpft daraufhin die Seriennummer mit dem aus der Aufnahme generierten Oberflächen-Fingerabdruck des Reifenhebers und speichert dieses Paar in einer Datenbank. Die produzierten Reifenheber können danach jederzeit identifiziert werden, um Prozessparameter auszulesen oder den Datensatz mit zusätzlichen Prozess-, Montage- oder Qualitätsdaten zu erweitern. Hierfür wird derselbe Oberflächenbereich erneut fotografiert, daraus der Fingerabdruck berechnet und dieser mit der Datenbank verglichen. Das Resultat ist die Seriennummer des passenden Fingerabdrucks. Wird ein Bauteil bei jedem Bearbeitungsschritt identifiziert, können alle Produktionsdaten mit dessen Seriennummer verknüpft werden und es entsteht eine lückenlose Rückverfolgbarkeit. Bei der Reifenheber-Anwendung kann dies mit einem manuell bedienbaren Tischgerät getestet werden, indem die Reifenheber in einer Halterung unter der Kamera platziert werden und die Identifikation über die Benutzeroberfläche der Detagto-Software gestartet wird. Neben der Seriennummer des identifizierten Reifenhebers wird ein QR-Code angezeigt, der zu einer Arburg-Webseite mit allen hinterlegten Spritzgießparametern und Qualitätsdaten aus dem Turnkey-Raum führt. Derartige Tischgeräte werden in manuellen Fertigungsprozessen oder zur Identifizierung von Stichproben und fehlerhaften Teilen beispielsweise im Qualitätslabor eingesetzt. Der Fingerabdruck der Reifenheber ist so einzigartig, dass viele Milliarden Stück problemlos unterschieden werden können. Pilotversuche industrieller Anwender haben außerdem gezeigt, dass bei Bauteilen aus glasfasergefülltem PA6.6 eine erfolgreiche Identifizierung auch dann noch möglich ist, wenn bis zu 70 % der Bauteiloberfläche verdeckt oder verändert wurden. Wird ein Reifenheber dabei einmal nicht mehr erkannt, wird das Teil als „unbekannt“ deklariert.  

Ist das System nachrüstbar?

Das Verfahren ist meist kostengünstiger und einfacher nachrüstbar als herkömmliche Systeme und da weder am Bauteil noch am Prozess etwas geändert werden muss, ist die Technologie vor allem für die interne Einzelteilverfolgung innerhalb einer Produktion gut geeignet. Wenn Bauteile in einem späteren Prozess ohnehin noch beschriftet oder in einer rückverfolgbaren Baugruppe verbaut werden, können auch herkömmliche und das markierungsfreie Verfahren miteinander kombiniert werden. Gerade bei spritzgegossenen Teilen ist das Einsparpotenzial für Unternehmen durch vollständige, bauteilindividuelle Traceability besonders hoch, da Angestellte in der Produktion oder Qualitätssicherung dank einer besseren Datenqualität Fehler schneller und effizienter finden. Durch Partnerschaften wie mit Arburg arbeitet Detagto intensiv daran, die Integration der Technologie in die Produktion mithilfe von Standardanbindungen weiter zu beschleunigen und zu vereinfachen.

Quelle: Detagto

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