Spritzgießen ist das bedeutendste Urformverfahren in der Kunststoffverarbeitung. Es ist bereits seit Jahrzehnten eine der wichtigsten industriellen Methoden, um schnell und ökonomisch große Mengen von Bauteilen aus Kunststoff herzustellen. Nicht zuletzt dank der Integration digitaler Technologien wie KI-getriebener Assistenzsysteme wird das Verfahren auch in Zukunft die Ansprüche an eine moderne und intelligente Fertigung erfüllen. Aktuell jedoch sind solche Assistenzsysteme nur in wenigen Fällen wirtschaftlich und finden damit noch wenig Anwendung in der Industrie. Das typische Vorgehen, um ein KI-getriebenes Assistenzsystem für einen Spritzgießprozess einzurichten, ist das Anlernen des Systems direkt auf dem Prozess. Dazu sind meistens sehr viele Versuche notwendig, die Material- und Personalkapazitäten für Tage oder gar Wochen in Anspruch nehmen. Einmal angelernt, kann das Assistenzsystem für diesen Prozess genau prognostizieren, ob Qualitätsvorgaben beim finalen Teil eingehalten werden oder nicht. Ein Problem entsteht, wenn das Assistenzsystem Prognosen für einen veränderten Prozess treffen soll, wenn zum Beispiel das Material gewechselt wird oder eine Materialcharge in ihren Eigenschaften signifikant abweicht. Da der Prozess partiell geändert wurde, gilt das angelernte KI-Modell, auf dem das Assistenzsystem basiert, nicht mehr und muss neu angelernt werden. Somit wäre wiederum ein erheblicher Aufwand an Zeit und Ressourcen nötig, und das typische Vorgehen erweist sich als nicht wirtschaftlich.
Flexible KI-Systeme für Spritzgießprozesse
Im Forschungsprojekt „Mouldpredict“ (Förderkennzeichen 49MF220158) befasst sich das Kunststoff-Zentrum in Leipzig (KUZ) mit der Entwicklung eines praktikablen KI-getriebenen Assistenzsystems. Dieses System soll produktionsbegleitend die vier Qualitätsmerkmale Formteilgewicht, Verzug, Einfallstelle und Brandstelle von Produkten aus einem Spritzgießprozess prognostizieren können und mit wenig Aufwand auf andere Prozessbedingungen übertragbar sein. Da die Sammlung qualitativ hochwertiger Messdaten ebenfalls ein großes Hindernis für Anwender darstellt, wird die Assistenz bis vor die Anlernphase erweitert. Zuerst entsteht eine maßgeschneiderte Datenerfassungsinfrastruktur, die sich besonders für das Generieren von aussagekräftigen Datensätzen und Anlernen eines KI-Modells eignet. Teil der Infrastruktur wird ein vollautomatisches Modul zur statistischen Versuchsplanung (DOE) sein. Das DOE-Modul erlaubt es erstmals, Spritzgießversuche mit automatisch variierenden Einstellparametern durchzuführen und die daraus resultierenden Prozessdaten direkt dem Anlernprozess des Assistenzsystems zuzuführen. Dadurch kann das Assistenzsystem auf einer breiten und effektiv angepassten Datenbasis aufgebaut werden. Zum Übertragen des Assistenzsystems auf mehrere Prozesse werden Methoden des Transfer Learning erforscht, die den Anlernvorgang bei beispielsweise Chargenschwankungen auf ein Minimum reduzieren oder gar vollständig wegfallen lassen. Hierbei wird das schon angelernte System verwendet und anhand definierter Kriterien, die sich aus den Änderungen des Prozesses ergeben, angepasst. In dieser Konstellation lässt sich ein System umsetzen, das stetig neue Erfahrungen sammelt und sich auf unbekannte Prozesse adaptieren und anwenden lässt.
Diese Datenerfassung wird aufgebaut
Der Prozess, der im Rahmen des Projektes „Mouldpredict“ betrachtet wird, basiert auf dem Versuchsstand des Vorlaufforschungsvorhabens „KI-Quality“ (Bild 1). Auf einer vollelektrischen Spritzgießmaschine (SGM) von Sumitomo (SHI) Demag wird ein eigens entwickeltes, fehleranfälliges Formteil mit zwei unterschiedlichen Kunststoffen produziert. So können die im Projekt relevanten Qualitätsmerkmale einfacher in verschiedenen Ausprägungen beobachtet und eine Prozessänderung simuliert werden. Peripher sind zwei Temperiergeräte, ein Materialtrockner und eine am Forschungsinstitut entwickelte Speicherprogrammierbare Steuerung zum Erfassen von Umgebungsvariablen und der Werkzeug-atmung am Prozess beteiligt. Eine Softwareerweiterung für die SGM ermöglicht es, Verlaufsdaten wie den Werkzeuginnendruck hochauflösend aufzuzeichnen. Zum Erfassen der Qualitätsgrößen sind zusätzlich ein Keyence-Laserprofilometer zur Messung von Verzugswerten, Einfallstellen und Brandstellen sowie eine Mettler-Waage zur Erfassung des Formteilgewichts eingebunden.
Diese Software-Infrastruktur wurde geschaffen
Um ein KI-getriebenes Assistenzsystem nutzen zu können, muss zunächst eine Infrastruktur zur kontinuierlichen Erfassung von Prozessdaten erstellt werden. Dafür wurde eine modulare Infrastruktur aus Microservices konzipiert. Für jedes Gerät wird jeweils ein Microservice entwickelt und implementiert, genauso wie für Funktionalitäten zur Vorhersage von Qualitätsmerkmalen oder Zuordnung von einzelnen Prozesswerten zu einem Produktionszyklus. Damit lässt sich die Infrastruktur relativ einfach den realen Erfordernissen anpassen. Jeder Microservice kann unabhängig vom Rest des Systems konfiguriert, erweitert und ausgetauscht werden. Zudem sind die Microservices als sogenannte Docker-Images konstruiert, welches die Wartung und Installation des Gesamtsystems besonders einfach gestaltet. Ein Mehrwert aus sämtlichen erfassten Datenpunkten kann erst entstehen, wenn die Daten in einer gewissen Struktur gespeichert werden, aus der Zusammenhänge erschlossen werden können. Dazu wurde ein separater Microservice entwickelt und implementiert, der die eintreffenden Prozessdaten der gerätespezifischen Microservices schussspezifisch anordnet, gegebenenfalls zusammenfasst oder bereinigt und in einer Datenbank ablegt. Mindestens ein weiterer Microservice kapselt die KI-Modelle des Assistenzsystems, welches anhand der eintreffenden und strukturierten Prozessdaten live Vorhersagen zu resultierenden Qualitätsgrößen treffen kann. Dabei ist der Microservice so gestaltet, dass die KI-Modelle mit nur wenig Aufwand ausgetauscht werden können. Die zur Entwicklung der Infrastruktur genutzten Softwarebausteine sind in Bild 2 dargestellt.
Warum eine grafische Oberfläche wichtig ist
Ein Assistenzsystem ist unbrauchbar, wenn der aktuelle Zustand des Prozesses und entsprechende Prognosen nicht visuell aufbereitet sind. Deshalb ist es wichtig, eine grafische Oberfläche zu haben, die aktuelle Prozessgrößen sowie Prognosen des Assistenzsystems live anzeigen kann, aber auch mögliche Störungen in der Infrastruktur der Datenerfassung signalisiert. Eine solche Oberfläche wird als Webanwendung umgesetzt, die zentral installiert wird und von jedem PC mit Netzwerkzugang über einen Webbrowser benutzbar ist. Aktuell ist der Versuchsstand vollständig vernetzt und Dateneingänge können live beobachtet werden. Im laufenden Prozess lassen sich Prognosen zum einen als Tachometer-Anzeigen (Bild 3) und zum anderen als zeitliche Kurvenverläufe mit entsprechender Differenz zum realen Wert überwachen. Hinzu kommen Ansichten, die Verarbeiter dabei unterstützen, einen DOE zu erstellen und zur automatischen Abarbeitung durch das System freizugeben.
Automatisierte, statistische Versuchsplanung
Die erste Version eines DOE-Moduls, welches das automatisierte Abarbeiten eines statistischen Versuchsplans am Versuchsstand realisiert, wurde bereits implementiert und erfolgreich getestet. Damit können aus-sagekräftige Datensätze für das Anlernen des Assistenzsystems nahezu automatisch generiert werden. Durch die automatisierte Variation der Parameter ist kein dauerhaftes Überwachen und Umstellen des Versuchsstands durch einen Maschinenbediener mehr notwendig. Voraussetzung für einen vollautomatischen Ablauf ohne Eingriff ist die Abarbeitung der anzufahrenden Einstellungen im DOE durch den Versuchsstand ohne das Auftreten eines Fehlerzustands. Aktuell lassen sich nur Parameter der Spritzgießmaschine über das DOE-Modul steuern, perspektivisch sollen sich aber alle einstellbaren Geräte genauso steuern lassen. An der Implementierung der weiteren Einstellmöglichkeiten und Features des Moduls wird fortlaufend gearbeitet.
Interessantes zum Projekt
Interessierte Firmen sind zur Teilnahme an dem Forschungsprojekt gerne eingeladen. Projektleiter Artur Jurk referiert auf der Fachtagung „Digitalisierung und KI in der Kunststoffverarbeitung“ am 4. und 5. Juni 2024 am KUZ in Leipzig und steht Ihnen dort persönlich zu Diskussionen zur Verfügung.
Dank
Gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mit dem Förderkennzeichen 49MF220158.
Quelle: KUZ Leipzig