Kistler - Sartorius

Mechanisches Pipettiersystem (Bild: Kistler)

Werden Werkzeuginnendrucksensorik mit Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI) kombiniert, bieten sich für die Produktqualität neue Perspektiven. Während der Werkzeuginnendruck der Fingerabdruck der Qualität des Bauteils und damit schon seit langem ein bewährtes Instrument der Prozessüberwachung ist, geht Kistler Instrumente, Winterthur, Schweiz, mit dem Comoneo Predict durch den Einsatz von KI einen Schritt weiter: Aus den Werkzeuginnendruckkurven werden noch vor Auswerfen des Bauteils direkt die Bauteilendmaße nach Abkühlungs- und Rekristallisationsprozessen sowie attributive optische Merkmale berechnet.

In Forschungsarbeiten hat sich der Einsatz von KI-Verfahren, wie neuronale Netzwerke (NN), für die Simulation der Qualitätsmerkmale, abhängig von Maschineneinstellgrößen und Werkzeuginnendrucksensoren, schon lange als erfolgreich erwiesen [1, 2]. Diese Verfahren orientieren sich an den Vorgängen im menschlichen Gehirn, um sensorische Reize zu bewerten, in Aktionen umzusetzen und diese mittels mathematischen Algorithmen zu simulieren [3]. Künstliche neuronale Netzwerke sind dabei so flexibel, dass sie derzeit in vielen sehr unterschiedlichen Anwendungen zum Einsatz gebracht werden, insbesondere wenn es um Mustererkennung oder die Berechnung nichtlinearer Zusammenhänge geht. In der Praxis kommen diese jedoch schnell an die Grenzen des praktisch Durchführbaren: Die Netzwerkarchitektur, das heißt, die benötigte Anzahl der Neuronen sowie die Anzahl der neuronalen Schichten müssen im Voraus festgelegt werden. Die jeweils für den Anwendungsfall optimale Netzwerkarchitektur herauszufinden erfordert zum einen tiefgehende mathematische Kenntnisse auf dem Gebiet neuronaler Netzwerke, zum anderen ausführliche Tests mit unterschiedlich konfigurierten Modellen. Die Folge ist ein enormer Zeit- und Kostenbedarf in der Anwendung durch eine Vielzahl benötigter Versuche. Der Einsatz der computerbasierten Verknüpfungen scheiterte im Fertigungsalltag aufgrund ihrer komplizierten Handhabung und dem erforderlichen mathematischen Detailwissen.

Aus diesem Grund kooperiert Kistler eng mit Stasa (Steinbeis Angewandte Systemanalyse) mit Sitz in Stuttgart. Bei Stasa wurde ein neuartiges Verfahren, sogenannte selbstgenerierende neuronale Netzwerke entwickelt, mit dem die Vorteile dieser Netzwerke auch in der Praxis sinnvoll genutzt werden können. Hierbei werden die einfache Handhabbarkeit linearer Regressionsmodelle mit der Fähigkeit neuronaler Netzwerke, nichtlineare Prozesse und attributive Qualitätsmerkmale im Modell abbilden zu können, vereint [3].

Hintergründe

Ausgehend von einem linearen Regressionsmodell werden bei dieser Vorgehensweise, falls erforderlich, systematisch lineare Verknüpfungen durch lokale neuronale Netzwerke ersetzt, bis durch Einführen weiterer Nichtlinearitäten die Modellgüte nicht mehr verbessert werden kann. Nichtlinearitäten werden daher nur bei Bedarf in das Qualitätsprognosemodell eingeführt. Somit wird ein neuronales Netzwerkmodell mit minimaler Parameterzahl generiert und der erforderliche Trainingsaufwand auf ein Minimum reduziert. Aus Versuchsdaten „erlernt“ das selbstgenerierende neuronale Netzwerk selbstständig den Zusammenhang zwischen den Werkzeuginnendruckkurven und den Qualitätsmerkmalen.

Sowohl der Trainingsprozess als auch die Netzwerkgenerierung erfordern keine Vorgaben oder Eingriffe durch den Anwender. Somit sind keine mathematischen Vorkenntnisse für das Erstellen der Prozessmodelle notwendig. Das oben beschriebene Verfahren eignet sich daher sehr gut für den praktischen Einsatz unter Fertigungsbedingungen [4].

Selbstgenerierende neuronale Netzwerke werden auch in der durch Kistler Instrumente vertriebenen Software Stasa QC zur Arbeitspunktoptimierung eingesetzt und haben sich hierbei in vielen Anwendungen durch ihre Präzision und einfache Handhabbarkeit sowie dem vergleichsweise geringen Trainingsaufwand bewährt [5].

Lernendes Softwaresystem

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Assistenzbasierte Versuchsplandurchführung mit Comoneo Predict (Bildquelle: Kistler)

Durch das Einbinden der selbstgenerierenden neuronalen Netzwerke in das Kistler Comoneo System können diese nun mit dem Zusatzmodul Comoneo Predict zum gezielten Überwachen der Teilequalität im Fertigungsprozess genutzt werden. Die notwendigen Definitionen der Qualitätsmerkmale sowie das Erstellen des Versuchsplans, über den die Trainingsdaten für das neuronale Netzwerk gewonnen werden, erfolgt dabei mit der intuitiv bedienbaren PC Software Stasa QC. Der Versuchsplan wird an Como-Neo übermittelt und assistenzbasiert an der Maschine abgefahren. Typischerweise reichen für das Training circa zehn unterschiedliche Versuchseinstellungen an der Maschine aus. Pro Einstellung werden fünf bis zehn Zyklen gefahren, um Prozessschwankungen und deren Auswirkung auf die Teilequalität zu erfassen. Die im Werkzeug installierte Sensorik liefert dabei für jeden Versuch die notwendige Information über die Prozessveränderungen – den Fingerabdruck der Qualität der Bauteile. Nach Vermessen der Qualitätsmerkmale der während der Versuchsplandurchführung gefertigten Bauteile werden diese in der Stasa QC Software mit den Werzeuginnendruckkurven zusammengeführt.

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Zusammenhänge der Werkzeuginnendruckkurve und der Bauteilqualität (schematisch) (Bildquelle: Stasa)

Für jedes Qualitätsmerkmal werden über eine automatisierte Korrelationsanalyse geeignete Kenngrößen aus den Werkzeuginnendruckkurven extrahiert, in denen sich die Wirkung der Prozessänderungen auf das Qualitätsmerkmal am deutlichsten wiederspiegeln. Diese dienen als Eingangsgrößen für die selbstgenerierenden neuronalen Netzwerke zur Qualitätsprognose, welche entsprechend über die Versuchsplandaten trainiert werden. Neben dem optimalen Arbeitspunkt liefert die Software damit auch die entsprechenden Qualitätsprognosemodelle.

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Online Qualitätsprognose mit dem Comoneo Predict, das die Teilequalität für jeden Zyklus und jede Kavität, bevor das Bauteil das Werkzeug verlässt, prognostiziert. (Bildquelle: Kistler)

Comoneo Predict berechnet damit im laufenden Fertigungsprozess die Teilequalität für jeden Zyklus und jede Kavität lückenlos aus den Werkzeuginnendruckdaten. N.i.O.-Teile können kavitätenspezifisch direkt aussortiert werden. Die entsprechend prognostizierten Werte der Bauteilmaße sowie die Attribute optischer Qualitätsmerkmale werden aufgezeichnet und dienen zur lückenlosen Qualitätsdokumentation. Die Intervalle für reguläre Stichprobenentnahmen können reduziert werden.

Erfahrungen aus der Praxis

Comoneo Predict setzt unter anderem Sartorius am Standort Helsinki, Finnland, für die hochpräzise Qualitätsüberwachung von Kunststoffteilen für Pipettiersysteme ein. In dem Werk werden unter anderem mechanische und elektronische Pipettiersysteme entwickelt und produziert. Allein für diese Produkte werden jährlich rund sechs Millionen Einzelteile gefertigt. Tom Villilä ist Entwicklungsleiter im Bereich Spritzguss und verantwortlich für die Qualität der bis zu 50 Einzelteile, aus denen ein Pipettiersystem besteht. Seit 2018 ist das Prozessüberwachungssystem Comoneo mit der Funktion Comoneo Predict im Einsatz. Tomi Villilä verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in der kunststoffverarbeitenden Industrie und ist mit der Anwendung der Werkzeuginnendrucksensorik vertraut: „Ich kenne Kistler schon sehr lange und weiß um die hervorragende Leistung ihrer Sensoren.“

Obwohl Comoneo erst vor kurzem in Betrieb genommen wurde, sind die Anwender bei Sartorius bereits von den Vorteilen des Systems überzeugt: „Wir haben mit einem eher unkritischen Teil, einer Vorrichtung, begonnen, um das System zu verstehen, den Umgang damit zu üben und unseren eigenen Prozess zu verbessern. Aber schon nach kurzer Zeit sind die Ergebnisse so gut, dass wir im nächsten Schritt planen, sechs bis acht weitere Comoneo-Geräte für andere kritische Komponenten einzusetzen.“

Kistler - Sartorius

Sensorik am Werkzeug der Vorrichtung des Pipettiersystems (Bildquelle: Kistler)

Basierend auf dem gemessenen Werkzeuginnendruck liefert das System des Messtechnikherstellers eine Vorhersage der Teilequalität, während der Spritzgießprozess noch im Gange ist. Der Vorteil: Eine intelligente Optimierung ist ohne zeitaufwendige Qualitätsmessungen möglich. In nur zwei bis drei Tagen Arbeit haben die Mitarbeiter von Sartorius den Versuchsplan zum Modellieren des Spritzgießprozesses für die Vorrichtung durchgeführt und die Teile vermessen. Nach der Optimierung mit Stasa QC und Comoneo Predict wurden sehr genaue Ergebnisse erzielt.

Ausschuss wird reduziert

Kistler - Sartorius

Blick ins Technikum bei Sartorius in Helsinki (Bildquelle: Kistler)

Durch die Berücksichtigung der Vielzahl von Maschinen- und Prozessparametern erhält der Anwender ein klares Verständnis für die Grenzen des Spritzgießprozesses und die relevanten Teileeigenschaften – Voraussetzungen für eine intelligente Prozessüberwachung. Es dauert nicht lange, um zu verstehen, was im Spritzgießwerkzeug passiert und um Erkenntnisse über den gesamten Prozess zu gewinnen. Tom Villilä bemerkt: „Auch Kollegen ohne langjährige Erfahrung können in kürzester Zeit hervorragende Ergebnisse erzielen!“

Auf Grundlage des generierten Vorhersagemodells kann mittels Comoneo der Anteil der Schlechtteile deutlich reduziert und diese auf Wunsch automatisch aussortiert werden. Einfaches Bedienen und Integrieren stehen im Vordergrund: „Dieses System ist wirklich einfach zu bedienen – fast wie ein Smartphone. Man braucht nur fünf oder zehn Minuten, um zu verstehen, wie es funktioniert. Und auch die Einrichtung eines DoE ist dank der mitgelieferten Software problemlos möglich. Man muss kein Mathematiker sein, um das ganze System zu verstehen – was bei anderen Programmen nicht der Fall ist. Nachdem Sie den Versuchsplan generiert haben, können Sie diesen einfach in Comoneo hochladen und erhalten bereits in der Testphase ein genaues Feedback zur Prozessoptimierung“, erklärt Villilä.

Für die Zukunft hat er bereits ehrgeizige Pläne: „Ich bin sicher, dass die Vorteile, die wir mit Comoneo erzielen können, auch für andere Sartorius-Geräte von Interesse sein werden – vor allem, weil dieses System so flexibel ist. Ich habe auf dem Expertenmeeting des Unternehmens in London für unsere Kollegen bereits einen Vortrag über unsere Erfahrungen mit Comoneo gehalten.“

KI ist im Spritzguss möglich

Durch den konsequenten Einsatz der Werkzeuginnendrucktechnologie, kombiniert mit Verfahren der Künstlichen Intelligenz, kann die Qualität von Kunststoffbauteilen bereits während der Produktion zu 100 % überwacht und dokumentiert werden. Die entsprechende Umsetzung im Kistler Comoneo Predict System und praktische Anwendungen zeigen die Alltagstauglichkeit und den konkreten Nutzen des Systems im Fertigungsumfeld. Entscheidend für den erfolgreichen Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Fertigung ist hierbei die einfache, intuitive Bedienbarkeit und die Minimierung des Aufwands im Trainingsprozess sowie eine nahtlose Systemintegration. Dem Anwender dürfen durch den Einsatz von KI keine Mehraufwände oder zusätzliche Hürden, wie zusätzlich erforderliches Fachwissen, entstehen. KI muss Mehrwerte in der Fertigung schaffen, ohne zu komplex in der Bedienung zu sein.

 

Literatur

[1] Vaculik, R.: Regelung der Formteilqualität beim Spritzgießen auf Basis statistischer Prozessmodelle. Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, Dissertation, 1996.

[2] Schnerr, O.: Automatisierung der Online-Qualitätsüberwachung beim Kunststoffspritzgießen. Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, Dissertation, 2000.

[3] Liedl, P.; Haag, G.: Stasa QC – Qualitätsprognose und Prozessüberwachung, in: D. Spath, K. Haasis, D. Klumpp (Hrsg.): Aktuelle Trends in der Softwareforschung, Tagungsband zum doIT Software-Forschungstag am 29. Oktober 2004. (IRB-Mediendienstleistungen, 2005).

[4] Liedl, P.: Echtzeit-Predictive-Analytics-Services in der Fertigung: Herausforderungen, Lösungen, Potentiale, TDWI Konferenz 2017 München.

[5] Liedl, P.; Friede, M.; Fick, D.: Prozessfähigkeit durch systematische Arbeitspunktoptimierung, Software reduziert den Aufwand bei der Validierung von Spritzgießprozessen, Kunststoffe 11/2015.

ist Leiter des Geschäftsfelds Plastics bei Kistler Instrumente in Winterthur, Schweiz.

ist Geschäftsführer der Stasa – Steinbeis Angewandte Systemanalyse in Stuttgart.

arbeitet bei Kistler Nordic in Riihimäki, Finnland.

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