Zugegeben, zunächst ist es ungewohnt, sich in einer Fertigungsumgebung aufzuhalten, in der fahrerlose Transportsysteme die Intralogistik durchführen. Nahezu lautlos gleiten die Gestelle mit Kunststoffteilen vorbei, um wenige Augenblicke später am Bestimmungsort präzise platziert zu werden. Doch je länger man sich in dem Bereich bewegt und mit der Thematik beschäftigt, desto selbstverständlicher und nachvollziehbarer wird dieser automatisierte Prozess – gerade in Zeiten des voranschreitenden Fachkräftemangels.
Der Automobilzulieferer Faurecia hat die Fertigung von dekorativen Black-Panel-Bauteilen für den Fahrzeuginnenraum in sein Produktportfolio aufgenommen. Im Werk Peine, das bisher in erster Linie Großteile wie Instrumententafeln fertigte, werden diese anspruchsvollen Bauteile hergestellt. Die Infrastruktur für diese Produktion war im Werk nicht vorhanden, sodass der Aufbau einer kompletten Prozesskette mit neuer Fertigungstechnik erforderlich war. Die Entscheidung für eine Vollautomatisierung wurde im Wesentlichen von zwei Gesichtspunkten beeinflusst: Der Wirtschaftlichkeit, um auch bei steigender Variantenvielfalt und der dadurch geringer werdenden Stückzahl pro Variante effizient fertigen zu können, und der Stärkung des Fertigungsstandorts Peine.
Vom Werkzeug bis zum lackierten Teil
Doch was beinhaltet für Faurecia der Begriff Vollautomatisierung? Andreas Dak, Program Manufacturing Leader, Faurecia Hagenbach, erläutert: „Für uns war klar, dass wir am Ende das fertig lackierte Bauteil zur Endkontrolle in Händen halten wollen. Vorher sollte kein Werker Hand anlegen. Das heißt für unseren Prozess, die Automatisierung beginnt mit der Teileentnahme aus dem Werkzeug und endet beim Beschicken des Kontrollplatzes und beinhaltet alle internen Handlings- und Transportschritte sowie das Be- und Entladen der Lackieranlage.“ Im Dezember 2016 begann die Planungsphase des Projekts. Im zweiten Quartal 2018 hat der Automobilzulieferer mit der Serienproduktion von Black-Panel-Bauteile begonnen.
Das Unternehmen entschied sich für das Automatisierungskonzept von SAR Elektronik, Dingolfing, das in drei Abschnitte gegliedert ist: Spritzgießmaschine, Lackierung und Teilekontrolle. Im Spritzgießbereich übernehmen zwei ABB-Roboter die Aufgaben: Entnehmen des Bauteils und Angussbeschnitt, Übergeben an den zweiten Roboter zur Teilekennzeichnung mit Tintenstrahldrucker und die mechanische Entgratung, falls notwendig. Anschließend legt er die Teile in eine Schublade, wenn der Maschinenbediener eine visuelle Bauteilkontrolle durchführen möchte. Wird kein Teil zur Kontrolle angefordert, so bestückt er die Teileaufnahmen (Jigs). Ist ein Jig‘s gefüllt, so belädt er damit das Transportgestell und entnimmt die nächste Aufnahme zum Bestücken. Sind die zehn Ebenen des Trolleys bestückt, so erhält das fahrerlose Transportsystem (FTS) von der SAR-Steuerung die Information, den Trolley abzuholen und einzulagern.
Durchdachte Details
Die Teileaufnahmen dienen zum Transport und als Lackieraufnahme. Sie besitzen einen Alurahmen als Träger und einen schwimmend gelagerten Kunststoffaufsatz für die Teileaufnahme. Die Aufnahme- und Rastpunkte der Aufsätze sind individuell auf die 19 hergestellten Black-Panel-Bauteile abgestimmt, ihre Außenmaße von 100 cm x 100 cm sind jedoch gleich. Es ist vorgesehen, die Alurahmen regelmäßig beim Erreichen der kritischen Lackstärke zu reinigen. Die Kunststoffaufsätze werden nach Bedarf ausgetauscht, da sie bei jedem Durchlauf mitlackiert werden. Sobald die Fixierung der Bauteile für das Handling oder die Lackierung nicht mehr ausreichend ist, werden diese ersetzt.
An der Lackieranlage sind drei weitere ABB-Roboter in Betrieb. Einer entlädt die Trolleys und setzt immer zwei Jig‘s auf dem Lackierrahmen der Lackieranlage ab. Nach der Teilelackierung führt er die umgekehrten Prozessschritte durch. Ein über Kopf befestigter Roboter übernimmt das Be- und Entladen der Flachbettlackieranlage mit den Lackierrahmen. Der Dritte im Bunde versorgt den Bauteilkontrollplatz mit Jigs. Das heißt, er entnimmt ein mit lackierten Teilen bestücktes Gestell aus dem Trolley und legt es zur Bauteilkontrolle ab. Bei der Kontrolle durch den Werker werden die Bauteile von der Aufnahme entnommen und anschließend in die Transportverpackung eingelegt. Die nun leere Teileaufnahme wird vom Roboter wieder zurück in den Trolley gelegt und der mit leeren Jigs bestückte Transportwagen vom FTS ins Lager gebracht.
Simulation – wichtiges Instrument
Um die komplexen Abläufe automatisierter Prozesse planen und Prozesszeiten ermitteln zu können ist eine Simulation im Vorfeld erforderlich. Die fünf Spritzgießmaschinen stellen alle 60 bis 85 Sekunden ein bis zwei Teile bereit, die bis zum nächsten Zyklusende bearbeitet sein müssen. Deshalb hat SAR die gesamten Roboterabläufe im Vorfeld hinsichtlich Reichweiten, Abläufe, Zykluszeit sowie Störkonturuntersuchung simuliert. „Wir arbeiten mit Solid Works, das uns bereits in der Konzeptphase solch komplexer und zeitkritischer Projekte die Möglichkeit bietet, mit dem Kunden Details sowie heikle Punkte zu besprechen“, erläutert Michael Neumeyer, Projektleiter SAR. „Im ABB Robot Studio wurden anschließend die Abläufe und Taktzeiten genauer untersucht. Aus diesen Ergebnissen wurden Offlineprogramme generiert, die eine schnellere Inbetriebnahme sicherstellen.“ Auch Andreas Dak sieht die Simulation als wichtiges Instrument: „Es ist notwendig von allen Komponenten 3D-Daten zu haben. Dies ist nicht nur wichtig, um die Projektumsetzung zu beschleunigen, sondern auch, um die benötigte Kapazität der Anlagen sicher zu stellen.“
Transport wie von Geisterhand
Für den Transport der Teile werden fahrerlose Transportfahrzeuge von Grenzebach, Asbach-Bäumenheim Hamlar, eingesetzt. Die Wahl fiel auf das fahrerlose Transportsystem L1200S, das eine integrierte Personensicherheits-Sensorik besitzt, die einen Einsatz in innerbetriebliche Umgebungen ermöglicht. Zwei Laserscanner erfassen jegliche Hindernisse auf der Fahrstrecke und stoppen den Wagen unmittelbar. Dies ermöglicht, dass sich die Fahrzeuge „frei“ in der Fertigung bewegen. Die Signale der Sicherheitsscanner werden auch zur Navigation der Systeme verwendet. Hierzu wurden an markanten Stellen im Bewegungsfeld der FTS Leitbleche und Reflektoren installiert. Anhand der remittierten Signale werden die Umgebungsmerkmale permanent ausgewertet und Lage sowie Position des Fahrzeugs bestimmt.
Die Systeme können maximale Lasten von 1,2 t bewegen. Mit seiner Höhe von 340 mm unterfährt das FTS die Last, hebt diese an und transportiert sie auf freier Strecke mit einer Maximalgeschwindigkeit von bis zu 1,2 m/s ans Ziel, wo er sie millimetergenau abstellt. Jedes der sechs Fahrzeuge besitzt einen Flottenmanager, in dem eine virtuelle Karte der Produktionsumgebung hinterlegt ist. Wird von einer Anlage ein FTS angefordert, so macht sich immer das am nächstgelegene auf den Weg, um das bis zu 2,4 m hohe Gestell abzuholen oder zu bringen. Die Mitarbeiter der Produktion freuen sich über die neuen Kollegen, die den Teiletransport übernehmen. Anfangs war es sehr ungewohnt, inzwischen arbeiten die Parteien gut zusammen.
Kommunikation ist entscheidend
Die Aufgabe des Automatisierers ist es, dass sich die Bauteile zur rechten Zeit am rechten Ort befinden. Die Ablaufsteuerung der Anlagen untereinander sowie die Bauteilinformationen auf Jig-Ebene zum Warehouse-Control-System werden über Profinet ausgetauscht. Erweiterte Bauteilinformationen werden über RFID weitergegeben und die Trolleys werden über einen Data-Matrix-Code am Gate identifiziert. Der Roboter zur Teileentnahme aus dem Werkzeug kommuniziert über eine Euromap 67 Schnittstelle mit der Engel Spritzgießmaschine.
Doch wie läuft der Prozess nun ab? Die Spritzgießmaschine ist gerüstet und startbereit. An der Benutzeroberfläche der Automation wird das Programm des zu fertigenden Bauteils ausgewählt. Das FTS erhält diese Information und holt aus dem Trolleylager ein zugehöriges Gestell. Beim Einfahren des Trolleys in das Gate an der Maschine wird zuerst anhand des Datamatrix-Codes und anschließend der RFID auf dem Jig überprüft, ob es sich um das passende Gestell handelt. Anschließend wird es eingefahren und über Scanner exakt positioniert. In Richtung Handlingszelle öffnet ein Schnelllauftor und die Entnahme der Jigs zum Bestücken kann erfolgen. Zwischenzeitlich wird in das zweite Gate ebenfalls ein Trolley eingefahren, damit ein fliegender Wechsel möglich ist. Volle Gestelle werden von den Transportsystemen an den vorgesehenen Stellplätzen eingelagert. Dieser Ablauf wiederholt sich, bis das Fertigungslos abgearbeitet ist. Parallel läuft auch die Lackierung von Bauteilen. Die Entnahme der Gestelle aus dem Lagerbereich erfolgt nach dem first-in-first-out-Prinzip.
Inbetriebnahme erfolgt
Mit der Produktion und Lackierung der Black-Panel-Bauteile wurde im zweiten Quartal 2018 begonnen. Die Automatisierung übernahm von Beginn an das Teilehandling. Der Probebetrieb des automatisierten Transportsystems wurde Mitte März abgeschlossen und im April 2019 fand die Endabnahme statt. „Dieses komplexe System in solch kurzer Zeit umzusetzen war herausfordernd. Wir mussten alle Schnittstellen zwischen den verschiedenen Prozessen stets im Auge behalten und validieren. Denn Automation erfordert ein perfektes Umfeld, da jede noch so kleine Abweichung kann das System zum Stehen bringen“, führt Andreas Dak aus.
Nachdem die vollautomatisierte Produktion nun läuft, stehen Schritt zwei und drei an. Zunächst wird die automatische Bestandsführung in das SAP-System implementiert bevor als letzter Schritt das Thema Big Data kommt. Anfang kommenden Jahres wird der Hochfahrpozess endgültig abgeschlossen sein, ist Dak überzeugt.
Anwender im Detail
Faurecia
Seit seiner Gründung 1997 hat sich Faurecia zu einem bedeutenden Akteur in der globalen Automobilindustrie entwickelt. In seinen drei Geschäftsbereichen Seating, Interiors und Clean Mobility ist das Unternehmen heute mit insgesamt 300 Standorten, darunter 35 F&E-Zentren, und 115.000 Mitarbeitern in 32 Ländern weltweit tätig. Die Technologiestrategie ist auf Lösungen für den smarten Fahrzeuginnenraum und nachhaltige Mobilität ausgerichtet. Faurecia erwirtschaftete 2018 einen Umsatz von 17,5 Mrd. EUR.
Anbieter im Detail
SAR Group
SAR ist Partner für Industrie- und Prozessautomation. Der Hauptsitz des seit 1985 bestehenden Unternehmens befindet sich im bayerischen Dingolfing. Neben verschiedenen Niederlassungen in Deutschland ist SAR in den USA, Südafrika, England, der Schweiz und Slowenien angesiedelt, mit weltweit mehr als 700 Mitarbeitern. Die Produkte und Leistungen der Fachbereiche Automation, Prozess- und Umwelttechnik, Prüf- und Messtechnik, IT-Services, Oberflächensysteme und Kunststoffsysteme werden zusammen mit Schaltanlagenbau, Montagen, Schulungen und Service weltweit flexibel angeboten. Im Bereich der Kunststoffautomation liegen die Schwerpunkte auf kundenspezifischen Automatisierungslösungen im Bereich Spritzgießautomation, Blasformautomation, Montageautomation sowie Retrofit.