Schrauben Stifte Resomer

Die Schrauben aus einem PLA-Compound stabilisieren zuerst und werden dann vom Körper biologisch abgebaut, sodass auf einer erneute Operation zur Entfernung des Implantats verzichtet werden kann. (Bild: alle Evonik)

Bei Knochenbrüchen setzen Chirurgen häufig Schrauben, Platten, Drähte und Stifte ein, um die Knochenfragmente bis zur Heilung zu stabilisieren. Diese Implantate aus Metall werden oftmals nach zwölf bis 24 Monaten in einer erneuten Operation entfernt. Zudem ist Metall kein ideales Material für die Versorgung von Brüchen, weil es viel weniger elastisch als Knochen ist.  Doch „Knochen brauchen die ständige mechanische Beanspruchung, um sich zu regenerieren und ihre Dichte und Festigkeit zu erhalten. Fehlt die physiologische Belastung, kann sich der Heilungsprozess verlangsamen“, sagt Dr. Andreas Karau, bei Evonik im Geschäftsgebiet Health Care verantwortlich für Biomaterials. Bei Implantaten, die dauerhaft im Körper verbleiben, kann das sogar dazu führen, dass sich der entlastete Knochen im Laufe der Jahre abbaut.

Besser wäre es, Implantate aus einem Material zu fertigen, das die mechanischen Belastungen an den Knochen weiterleitet, statt sie abzufangen. Hier spielen Kunststoffimplantate ihre Stärken aus: Sie sind deutlich elastischer als Metalle und verhindern so den Knochenabbau, der als Stress-Shielding-Effekt bezeichnet wird.

Implantate aus dem bioabbaubaren Polymer Resomer bieten den zusätzlichen Vorteil, dass sie im Zuge der Knochenheilung vom Körper resorbiert werden. Im Idealfall wird ein bioresorbierbares Polymer so ausgewählt, dass die Festigkeit des Implantats in dem Maße abnimmt, wie die Heilung voranschreitet und die Belastbarkeit der Bruchstelle wächst.

Forschungszentrum für biokompatible Kunststoffe in Implantaten

Evonik ist seit mehreren Jahren mit verschiedenen Polymermaterialien in diesem Markt aktiv und hat im Jahr das Projekthaus Medical Devices in Birmingham, USA, gestartet, um die systematische Entwicklung von verbesserten Materialien für die orthopädische Chirurgie voranzutreiben. Zum entwickelten Portfolio gehören bioabbaubare Polymere auf Polymilchsäurebasis der Marke Resomer. Medizinproduktehersteller fertigen daraus Schrauben, Stifte und kleine Platten, die vom Körper nach einer vorgegebenen Zeitspanne resorbiert werden. Außerdem bietet das Unternehmen das Polyetheretherketon Vestakeep an, aus dem Implantate für Wirbelsäule, Mund, Kiefer und Schädel gefertigt werden, Anwendungen, die neben einer hohen Biokompatibilität auch gute mechanische Eigenschaften erfordern.

Das Potenzial dieser Polymermaterialien für die Medizintechnik ist aber noch lange nicht ausgereizt. „Könnte man Biopolymere per 3D-Druck verarbeiten, ließen sich Implantate für jeden Patienten und jede Operation individuell maßschneidern“, sagt Karau. Rund 25 Forscher arbeiten im Projekthaus daran, diese Vision umzusetzen. „Die meisten haben wir neu rekrutiert, denn es braucht spezifisches Know-how in unterschiedlichen Bereichen, um neue Lösungen zu entwickeln und zur Marktreife zu bringen“, erklärt Karau.

Project House Med Dev Leiter Balaji Prabhu

Das Projekthaus Medical Devices in Birmingham in USA wird von Balaji Prabhu geleitet. (Bildquelle: alle Evonik)

Ein erstes im Projekthaus entwickeltes Produkt ist das Verbundmaterial, das aus den Polymilchsäuren Resomer und einem synthetischen Hydroxylapatit-Füllstoff besteht. Hydroxylapatit ist das häufigste Biomineral im menschlichen Körper; es macht 70 Prozent der menschlichen Knochen aus. Die Eigenschaften der beiden Materialien ergänzen sich perfekt. Das Polymer sorgt für die Bioabbaubarkeit: Es wird im Körper komplett zu Kohlendioxid und Wasser abgebaut, verursacht keine Entzündungsreaktion und ist vollkommen ungiftig. Ein weiterer Pluspunkt: „Wir können die Abbauzeit des Verbundmaterials genau steuern, indem wir Zusammensetzung, Kettenlänge und Kristallisationsgrad der Polymilchsäuren variieren“, sagt Projekthausleiter Balaji Prabhu. Das bioabbaubare Polymer kann sich innerhalb von wenigen Wochen oder etlichen Monaten auflösen – je nachdem, wie lange der Knochen und das umgebende Gewebe brauchen, um sich zu regenerieren.

Das sehr harte Hydroxylapatit übernimmt im Verbundmaterial gleich zwei Aufgaben: Es verbessert die mechanische Festigkeit der Polymere und fördert den Heilungsprozess, bei dem die Knochenzellen an der Implantatoberfläche anwachsen – die Osseointegration. Das Biomineral wird in den sich regenerierenden Knochen eingebaut, während das Polymer langsam abgebaut wird. Derzeit gibt es im Markt keinen entsprechend vorgefertigten Verbundwerkstoff. „Bisher mussten die Medizintechnikhersteller das Compoundieren,  also das Mischen der einzelnen Rohstoffe zum fertigen Verbundwerkstoff, selbst übernehmen oder einen Dienstleister damit beauftragen. Dieser Verarbeitungsschritt ist aber nicht trivial“, sagt Karau.

Kritisch sind vor allem die Prozessierungsbedingungen. Sind diese nicht optimal gewählt, wird das Hydroxylapatit nicht homogen im Polymer verteilt, oder es kommt zu einer Abbaureaktion des Polymers. Ein Problem, das das Projekthaus gelöst hat: „Mittlerweile beherrschen wir diesen Schritt im kommerziellen Maßstab“, so Karau. Das Geschäftsgebiet Health Care kann nun unterschiedlich zusammengesetzte Verbundmaterialien anbieten, die die Medizinproduktehersteller ohne weiteren Zwischenschritt direkt per Spritzgießen zum gewünschten Teil verarbeiten können.

Kunststoff fördert die Heilung 

Ein zweiter Schwerpunkt des Projekthauses liegt auf Vestakeep. „Chemisch betrachtet handelt es sich um ein biokompatibles Polyetheretherketon“, erklärt Evonik-Experte Marc Knebel, verantwortlich für Medical Devices & Systems im Geschäftsgebiet High Performance Polymers. „Es kommt in orthopädischen Implantaten für Mund, Kiefer und Schädel und insbesondere für die Wirbelsäule zum Einsatz, die im Körper verbleiben sollen.“

Bandscheibenprothesen Vestakeep

Die Bandscheibenprothesen aus Kunststoff sorgen für den nötigen Abstand zwischen den Wirbelkörpern und unterstützen durch die Gitterstruktur die schmerzfreie Verknöcherung der Wirbel. (Bildquelle: alle Evonik)

Ein typisches Produkt aus dem Polyetheretherketon sind Bandscheibenimplantate. Im Aussehen ähneln sie kleinen Käfigen mit einem zentralen Hohlraum, der für die korrekte Funktion wichtig ist; daher werden sie auch Spine Cages genannt. „Bei einem Bandscheibenvorfall kann es in bestimmten Fällen sinnvoll sein, die Bandscheibe zu entfernen. Sie wird dann durch ein solches Implantat ersetzt, um den natürlichen Abstand zwischen den Wirbeln wiederherzustellen“, beschreibt Knebel. „Mit der Zeit wächst dann das Knochenmaterial in den Käfig hinein, und es entsteht eine knöcherne Verbindung zwischen den benachbarten Wirbeln.“

Dass der Werkstoff hier besonders gut geeignet ist, liegt an seinen Materialeigenschaften, erläutert Knebel: „Die Elastizität von Vestakeep ist mit der von Knochen vergleichbar. Daraus gefertigte Implantate verhindern deshalb, dass es bei den umgebenden Wirbeln zum Stress Shielding kommt.“

Eine Herausforderung bei den Spine Cages ist, dass sie sich nach dem Eingriff setzen oder bewegen können. „Bis die Verknöcherung weit genug fortgeschritten ist, sorgt die gezahnte Oberfläche des Implantats durch ihre Klemmwirkung für eine ausreichend hohe Stabilität“, so Knebel. Die Experten haben aber auch einen Kniff ersonnen, um den Heilungsprozess zu beschleunigen: Ein Verbundwerkstoff aus dem Biomineral Hydroxylapatit und Vestakeep soll das Anwachsen von Knochenzellen am Implantat erleichtern und die Wirbelkörper so schneller zusammenwachsen lassen. Auch hier stellte die notwendige Temperatur von mehr als 400 °C im Produktionsprozess eine große Hürde dar. Die Lösung ist ein modifiziertes Hydroxylapatit, das bei hohen Temperaturen problemlos verarbeitet werden kann und sehr gutes Knochenwachstum gewährleistet. Derzeit wird der Prozess in den kommerziellen Maßstab überführt, und die Markteinführung des neuen Verbundwerkstoffs ist für 2019 geplant. Sein Name Vestakeep Osteoconductive bringt die Fähigkeit des Materials zum Ausdruck, als Leitgerüst das natürliche Knochenwachstum zu erleichtern.

Polymere für die additive Fertigung in der Medizintechnik

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Die bioabbaubaren Resomer-Polymere sollen zukünftig für den 3D-Druck in der Medizintechnik zugelassen werden. (Bildquelle: Frank Preuß/Evonik)

Die Evonik-Forscher in Birmingham treibt noch eine weitere Idee um: Sie wollen 3D-druckbares Resomer für die Medizintechnik entwickeln. Benötigt etwa ein Patient mit Schädel- oder Gesichtsverletzung ein Implantat, lässt sich per Computertomografie die exakte Form ermitteln. Eine Software schickt die Daten an einen Drucker, der das Implantat anfertigt. Innerhalb weniger Stunden steht ein patientenspezifisches Implantat zur Verfügung, und der Patient kann operiert werden.

Noch ist das allerdings Zukunftsmusik. „Bisher wählen Chirurgen das am besten passende Implantat aus einer Reihe von Standardgrößen aus. Individuell angefertigte Kunststoffimplantate für einzelne Patienten sind nicht verfügbar“, beschreibt Prabhu das derzeitige Vorgehen. Ein echtes Manko, doch bislang fehlt es an implantierbaren Polymermaterialien, die sich in gleichbleibender Qualität drucken lassen und gleichzeitig den hohen regulatorischen und qualitativen Ansprüchen in der Medizintechnik genügen. So enthalten Polymilchsäuren, die heutzutage für den industriellen 3D-Druck angeboten werden, Zusatzstoffe, die sie überhaupt erst druckbar machen. In der Medizintechnik sind diese Additive aber tabu.

„Wir arbeiten daran, dass unsere bioabbaubaren Resomer-Polymere für den 3D-Druck in der Medizintechnik genutzt werden können“, sagt Dr. Thomas Riermeier, der bei Health Care den Produktbereich Pharma Polymers & Services leitet. Ziel sei, Materialien mit der entsprechenden Dokumentation für die gängigsten Druckverfahren in den Markt zu bringen: Pulver für das selektive Lasersintern (SLS) und dünne Stränge für den Filamentdruck.

Beim Filamentdruck wird ein dünner Strang des Polymers im 3D-Drucker einem Extruder zugeführt, auf Schmelztemperatur erhitzt und durch eine Düse gedrückt. Schicht für Schicht entsteht so das Bauteil. „Entscheidend ist, dass das Filament eine für diesen Zweck geeignete, stabile Geometrie besitzt und sich während des Schmelzens nicht chemisch verändert. Zudem muss es auch auf Druckern unterschiedlicher Hersteller ein reproduzierbares Verhalten zeigen“, beschreibt Riermeier die Anforderungen an das Material.

Beim SLS dagegen fährt ein Laser über ein Pulverbad und schmilzt nur ganz bestimmte Bereiche der obersten Partikelschicht auf, die sich nach dem Abkühlen verfestigen – ein Prozess, der sich immerfort wiederholt und so ebenfalls schichtweise das Bauteil erzeugt. „Für ein optimales Druckergebnis sollte das Polymerpulver einen geeigneten Partikeldurchmesser besitzen und gut fließfähig sein. Gerade der letzte Punkt ist für uns eine besondere Herausforderung. In industriellen Anwendungen kommen häufig Fließmittel zum Einsatz, doch wegen der fehlenden Zulassung ist das in der Medizintechnik natürlich unmöglich“, so Riermeier.

Bei beiden Druckverfahren haben die Projekthausforscher Prozesse entwickelt, um sowohl Pulver als auch Filamente in die richtige Form zu bringen. Herstellern von Medizinprodukten werden nun Forschungsmuster zur Verfügung gestellt, damit sie eigene Druckversuche durchführen können. Bis erste Implantate im Krankenhaus aus dem Drucker kommen werden, müssen allerdings auch noch regulatorische Hürden überwunden werden.

ist in der Abteilung Innovation Networks & Communication bei Evonik tätig.

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