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Installation einer Reinraumzone in einem kunststoffverarbeitenden Betrieb: Medien-, Energie- und Rohmaterialzuführung mussten auf engstem Raum koordiniert werden. (Bild: IE Plast)

Der Trend ist offensichtlich: Immer mehr Produkte werden unter Reinraumbedingungen gefertigt. Wichtigste Treiber dieser Entwicklung sind die Pharmaindustrie und die medizintechnische Industrie, die von dem weltweiten Wachstum der Gesundheitsmärkte profitieren. Gleichzeitig befindet sich der Werkstoff Kunststoff in medizintechnischen Produkten sowie in pharmazeutischen Primärverpackungen weiter auf dem Vormarsch. Folglich stehen immer mehr Kunststoffverarbeiter vor der Aufgabe, ihre Produktionsbetriebe mit reinraumtechnischen Equipment, reinraumtauglichen Maschinen sowie einer adäquaten Gebäudetechnik auszurüsten, die eine sichere Fertigung unter kontrollierten Bedingungen erlaubt. In der Medizintechnik steht dabei – solange nicht offen mit aktiven pharmazeutischen Substanzen hantiert wird – der Produkteschutz im Fokus. Implantate, Spritzenbehälter, Pipettenspitzen, Infusionszubehör und viele andere Produkte müssen in der gesamten Fertigungskette vor der Kontamination durch Partikel und Keime abgeschirmt werden.

Automation ist Trumpf

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Automatisierte Produktion auf engstem Raum.(Bildquelle: Schilling Engineering)

Die Produktion im Reinraum soll so automatisiert wie möglich erfolgen. Den „Gefährder Mensch“ gilt es weitestgehend von den Prozessen fernzuhalten: „Der Mensch ist aufgrund der hohen Partikelabgabe auch mit Schutzbekleidung die höchste Kontaminationsquelle innerhalb eines Reinraums“, erklärt Günther Schilling. Sein Unternehmen, Schilling Engineering in Wutöschingen, konzipiert und installiert unter anderem Turn-Key-Anlagen für die Pharmaindustrie und die Medizintechnik. „Je reiner ein Raum betrieben werden muss, desto mehr Automation kommt zum Einsatz“, sagt der Unternehmschef. Bei Reinraumklassen über ISO 5 (siehe Infobox) werden die Abläufe möglichst vollautomatisch durchgeführt. Eine Reinraum-Automationsanlage zeichnet sich gemäß Günther Schilling unter anderem durch absolute Systemsicherheit mit Ausfallraten unter 0,1 Prozent, leicht zu reinigende, verschleißarme Oberflächen sowie ein geringes Luftleckage-Risiko aus, das beispielsweise durch gekapselte Förderbänder erreicht wird.

Flächenproduktivität im Fokus

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Reinraumlabor im Kundencenter von Arburg in Loßburg. (Bildquelle Arburg)

Ganz abgesehen vom Kontaminationsaspekt erfolgt die Kunststoffverabeitung per se hochgradig automatisiert. Auch in Umgebungen mit geringeren Reinheitsgraden (zum Beispiel ISO 7 oder 8), wie sie in der Medizintechnik häufig anzutreffen sind, wird daher mit hoher Maschinendichte und wenig Personal produziert. Daraus leiten sich besondere Anforderungen an die Prozesssicherheit ab. Gleichzeitig müssen die Maschinen emmissionsarm in Bezug auf Partikel und Wärme arbeiten. Ein besonderes Gewicht erhält der Faktor Flächenproduktivität. Denn Reinräume sind aufgrund der enormen Umluftvolumina und des hohen kontrolltechnischen Aufwands wahre Energiefresser. Die Reinraumflächen müssen daher möglichst klein gehalten werden – was angesichts großvolumiger Maschinen und ausgreifender Roboter keineswegs trivial ist.

Erfolgreich gelöst hat eine solche Aufgabe beispielsweise der Kunststoffverarbeiter Flex Precision Plastics Solutions (Switzerland) (ehemals Riwisa) in Hägglingen, Schweiz, der Medizinprodukte mit einem hohen Automatisierungsgrad im Reinraum herstellt. In dem Betrieb wurde ein bestehender Montage-Reinraum mehrheitlich zurückgebaut und auf einen neuen ISO-7-Reinraum für Spritzguss umgerüstet. Dabei mussten die Spritzgießmaschinen inklusive Automatisierungseinheiten sehr dicht gruppiert werden. Eine Herausforderung bestand unter anderem darin, dass „sämtliche Medien punktgenau an die jeweils erforderliche Stelle im Raum über das Deckenplenum geführt werden mussten, wo sehr enge Platzverhältnisse herrschten“, erklärt Percy Limacher, Geschäftsführer der IE Plast in Zürich, die Industriegebäude im Kunststoffsektor plant und baut. Um den Energieeinsatz bei Flex Precision Plastics Solutions zu optimieren, wählte IE Plast einen ganzheitlichen Ansatz: Die Energie- und Kälteverbräuche wurden über einen Zeitabschnitt im Gesamtbestand gemessen und auf die künftigen Produktionsmengen und Anlagenkonzepte umgerechnet. Die im Prozess erzeugte Wärme wird nun gezielt am Enstehungsort abgesaugt, in einem skalierbaren Kühl- und Umluftsystem aufgefangen und ein möglichst hoher Anteil davon über ein energieoptimiertes Freecooling-System an die Außenluft abgegeben. So konnten Kältebedarf und Frischluftanteil im Reinraum gesenkt werden.

Spritzgießmaschinen fit für den Reinraum

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Der Rohrverteiler besteht aus Edelstahl, was die Partikellast im Reinraum reduziert. (Bildquelle: Engel)

Quasi alle großen Spritzgießmaschinen-Hersteller bieten heute Maschinen und Fertigungszellen an, die als Serienmodell oder mittels Sonderausstattung auf den Einsatz in der kontrollierten hygienischen Produktion zugeschnitten sind. In der Regel qualifizieren die Hersteller die Anlagen im eigenen Reinraumlabor und erstellen GMP-Dokumentationen für den Kunden. Behördlich vorgeschrieben sind die Richtlinien der Good Manufacturing Practice (gute Herstellerpraxis)  zwar nur für Pharmaproduzenten. Indes kommen auch Kunststoffverarbeiter, die an diese Branche liefern, nicht an GMP vorbei, da ihre Kunden ausschließlich GMP-gerechte Technik einkaufen. „Die Herausforderung besteht darin, dass GMP zwar festlegt, was gemacht beziehungsweise eingehalten werden muss, aber nicht, wie dies zu geschehen hat“, erläutert Christoph Lhota, Leiter Business Unit Medical, Engel Austria, Schwertberg, Österreich. „Hinzu kommt, dass die Norm für die Kunststoffverarbeitung an vielen Stellen zu weit geht. Wichtig ist deshalb, die GMP-Richtlinien praxisgerecht zu interpretieren, will man als Kunststoffverarbeiter weiterhin wettbewerbsfähig produzieren.“

Mit einer Reihe von Funktionen passen die Hersteller ihre Anlagen für den Einsatz in der medizinaltechnischen Produktion unter Reinraumbedingungen an. Bei den Engel-Maschinen sorgt zum Beispiel eine patentierte Massezylinderabsaugung dafür, dass kaum Partikel und nur wenig Wärme in den Reinraum dringen. Die abgedeckten Führungen der holmlosen Maschinen des österreichischen Herstellers bewirken, dass die Schließeinheit fettfrei bleibt. Weil hohe Geschwindigkeiten insbesondere in elektrischen Maschinen zu einer erhöhten Partikelproduktion führen, wurden die Entlüftungen mit Membranbälgen versehen. „Die Bälge kompensieren die Volumenveränderungen in den Antriebsachsen, sodass die partikelbeladene Luft im geschlossenen System bleibt“, erklärt Christoph Lhota. „Für den Einsatz im Reinraum müssen nicht nur die Maschine, sondern alle Komponenten einer Fertigungszelle optimiert werden“, hebt der Bereichleiter hervor. Dazu gehören z.B. Rohrverteiler aus Volledelstahl und Greifer-Umhausungen für einen emissionsarmen Roboter-Betrieb.

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Produktbeispiel: Topfkammer eines Infusionsbestecks, gefertigt unter Reinraumbedingungen. (Bildquelle Engel)

Je nach Prozessanforderungen und Reinraumklasse haben Kunststoffverarbeiter grundsätzlich drei Möglichkeiten, die Spritzgießmaschine in die Produktion zu integrieren: a) Die komplette Maschine steht im Reinraum, b) nur die Schließeinheit steht, hermetisch abgedichtet, im Reinraum oder c) die gesamte Maschine dockt von außen an den Reinraum an, wobei die Spritzgussteile über ein verkapseltes Förderband oder von einem eingehausten Roboter in den Reinraum eingeschleust werden. Die an den Reinraum angedockten Maschinen beziehungsweise Fertigungszellen sind in der Regel mit Reinluftmodulen über der Schließeinheit ausgerüstet.

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Produktionsbeispiel: Die Maschine fertigt Y-Connectoren aus PMMA. (Bildquelle: Arburg)

Bei den andockbaren Fertigungszellen von Arburg, Loßburg, kann zudem der Arbeitsbereich des Roboters durch ein Reinluftmodul überdeckt werden. Ein Beispiel, bei dem eine elektrische Allrounder-Maschine von Arburg außerhalb des Reinraums steht, ist die Fertigung von Anschlussstücken (Y-Connectors) für die Infusionstherapie. Produziert werden sie mit einem 8-fach-Werkzeug in einer Zykluszeit von rund zwölf Sekunden. Eine Besonderheit dieser Anwendung ist das seitliche Einspritzen via Heißkanal mit Nadelverschluss und das Entformen der PMMA-Spritzlinge von drei Seiten. Für die Fertigung innerhalb des Reinraums rüstet der deutsche Hersteller hydraulische Maschinen mit einer Hydraulik-Abdeckung aus. Die Reinraumtauglichkeit der elektrischen, hybriden und hydraulischen Allrounder wird zudem durch Features wie etwa erhöhte Maschinenfüße sichergestellt. Optional sind unter anderem vernickelte Aufspannplatten mit abgedeckten Bohrungen, Schließeinheiten und Maschinenverkleidungen aus Edelstahl oder für die pharmazeutische Produktion zugelassene Schmierstoffe verfügbar.

Wittmann Battenfeld, Kottingbrunn, Österreich, hat bei der Entwicklung der Medizintechnik-Version seiner elektrischen Spritzgießmaschinen besonderes Augenmerk auf den Werkzeuginnenraum gelegt. Als Merkmale genannt werden glatte, leicht zu reinigende Flächen, korrossionsbeständige Aufspannplatten mit verschließbaren Gewindebohrungen sowie alkohol- und lösungsmittelbeständige Sonderlackierungen. Schnittstellen wie Heißkanäle oder Kernzüge sind aus dem kritischen Bereich entfernt.
Dr. Boy, Neustadt/Wied, setzt in seiner Reinraumstrategie auf die geringen Stellflächen seiner Spritzgießmaschinen sowie auf deren Bauweise mit frei überstehenden Schließeinheiten. So lassen sich leicht Lösungen realisieren, bei denen nur die Schließeinheit in den Reinraum ragt. Wärme und Partikel erzeugende Komponenten, wie etwa Hydraulik, Antriebsmotor und Materialzufuhr sowie die Bedieneinheiten, befinden sich außerhalb des kontrollierten Bereichs. Durch das hydraulisch ziehende Zwei-Platten-Schließsystem befinden sich zudem auch keine schmierintensiven Bauteile wie etwa Kniehebel im Reinraum. Umgesetzt hat der Neustädter Spritzgießmaschinenhersteller dieses Konzept zum Besipiel bei dem Medizintechnik-Hersteller Semadeni, Ostermundigen, Schweiz. Eine laut Firmenangaben besonders preiswerte Variante stellt Boy für Sterilproduktionen in ISO-6-Umgebungen bereit. Hierbei wird der benötigte Reinraumplatz erheblich reduziert. Er erstreckt sich lediglich auf die über der Schließeinheit montierte Ionisierungsbox, den Werkzeugraum sowie die darunterliegende Teilebox. Optional kann dort auch eine Verpackungseinheit angebracht werden, was weitere Sterilisierungsprozesse erspart.

Trotz aller technischen Spezifikationen und Konformitätsdokumente, die von den Maschinenherstellern bereitgestellt werden, bleibt festzuhalten, dass die Qualifizierung der Reinräume und die Validierung der Prozesse letztendlich in der Verantwortung des Kunststoffverbeiters liegt. Denn nur der Praxiseinsatz einer Gesamtanlage vor Ort kann die relevanten Testbedingungen erzeugen.

Normen und Standards für den Reinraum

  • ISO 14644: Die Norm ISO 14644-1 legt die Grenzwerte für die Konzentration von Luftpartikeln unterschiedlicher Größenbereiche fest und ordnet diese den verschiedenen Reinraumklassen zu. ISO 1 hat den höchsten, ISO 9 den geringsten Reinheitsgrad. ISO 14644 beinhaltet auch Vorgaben für die Planung, Kontrolle und den Betrieb von Reinräumen.
  • GMP: Für die pharmazeutische Produktion wurden zudem die Reinraumklassen A bis D gemäß GMP-Leitfaden (GMP = Good Manufacturing Practice, gute Herstellungspraxis) definiert, der neben den Partikelkonzentrationen auch Grenzwerte für die mikrobiologische Kontamination empfiehlt. Das umfassende GMP-Regelwerk gilt als weltweiter Standard in der Pharmaindustrie. Deren Zulieferer sind zwar nicht verpflichtet, nach GMP zu produzieren, indes verlangen die Auftraggeber entsprechende Dokumentationen.
  • VDI-Richtlinie 2083: Die relativ neue Richtlinien-Reihe VDI 2083, Blatt 1 bis 17, stützt sich auf ISO 14644, setzt aber darüber hinaus Richtlinien für die technische Umsetzung im Betrieb. Dabei werden viele Aspekte von der Raumlufttechnik über die eingesetzten Betriebsmittel bis hin zur Energieeffizienz der Reinraumproduktion abgedeckt.

ist Chefredakteur Plastverarbeiter. ralf.mayer@huethig.de

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