Vorhergesagter Verzug unter Berücksichtigung aller Werkzeugkomponenten über mehrere Zyklen – das Bauteil verzieht sich im Vergleich zum konventionellen Ansatz in die entgegengesetzte Richtung.

Vorhergesagter Verzug unter Berücksichtigung aller Werkzeugkomponenten über mehrere Zyklen – das Bauteil verzieht sich im Vergleich zum konventionellen Ansatz in die entgegengesetzte Richtung. (Bild: Sigma Enineering)

Füllsimulationen werden seit mehr als 20 Jahren in der Kunststoffindustrie eingesetzt, um vorab Erkenntnisse über das Fließverhalten in einem Spritzgießwerkzeug zu gewinnen. Wenige Verarbeiter riskieren es heute noch ein Werkzeug zu bauen, ohne mindestens ein paar Simulationen zur Vorhersage der Bauteilfüllung durchzuführen. Anwender sind allerdings immer noch mit einer schwierigen Situation konfrontiert: Hin und wieder stimmen die vorhergesagten Ergebnisse nicht mit der Realität überein.

Diese Abweichung von der Simulation zur Realität ist bei der Schwindungs- und Verzugsvorhersage besonders kritisch. Vor allem bei komplexen Bauteilen weichen die simulativen Ergebnisse häufig weit vom realen Verhalten ab. Viele Verarbeiter sind durch diese Abweichungen verunsichert und haben folglich nach mehreren gescheiterten Versuchen aufgehört, der Simulation zu vertrauen. Das Problem liegt darin, dass die Komplexität des Spritzgießverfahrens, bei dem sich mehrere Faktoren gegenseitig beeinflussen, nicht erkannt wird. Der einfache Simulationsansatz, bei dem ausschließlich das Bauteil für die Simulation unter Voraussetzung konstanter Randbedingungen betrachtet wird, ist sehr riskant. Wichtige Faktoren werden auf diese Art vernachlässigt. Schwindung und Verzug sind eine Folge der sich bei der Entformung im Bauteil befindlichen Restenergie. Diese Restenergie folgt aus einer ungleichmäßigen Abkühlung und mechanischen Restriktion. Um die Realität abzubilden ist es notwendig, alle Faktoren, welche die Eigenspannungen im Bauteil verursachen, zu betrachten.

T-Verteiler aus Poly-carbonat mit zehn Prozent Glasfaseranteil. (Bildquelle: Sigma Engineering)

T-Verteiler aus Poly-carbonat mit zehn Prozent Glasfaseranteil. (Bildquelle: Sigma Engineering)

Wenn Verarbeiter über die Werkzeugtemperatur sprechen, ist häufig die Wasser- oder Öltemperatur am Temperiergerät gemeint. Die eigentliche Werkzeugtemperatur allerdings ist eher eine Funktion von Zeit und Ort innerhalb des Werkzeugs. Das Werkzeug hat keine spezifische, feststehende Temperatur, sondern einen zeit- und ortsabhängigen thermischen Gradienten. Die Werkzeugtemperatur wird sogar von der Zeit zwischen den Zyklen beeinflusst, in der eine Wärmeübertragung zwischen Werkzeug und Umgebung stattfindet.

Vorhergesagter Verzug unter Annahme einer gleichförmigen Werkzeugtemperatur (Original-Geometrie transparent, Verzug um Faktor 20 verstärkt dargestellt). (Bildquelle: Sigma Engineering)

Vorhergesagter Verzug unter Annahme einer gleichförmigen Werkzeugtemperatur (Original-Geometrie transparent, Verzug um Faktor 20 verstärkt dargestellt). (Bildquelle: Sigma Engineering)

Sigmasoft Virtual Molding basiert auf dem Verständnis, dass eine zuverlässige Vorhersage von Schwindung und Verzug nur unter Betrachtung aller relevanten Faktoren möglich ist. Es werden keine Annahmen gemacht, sondern der komplette Prozess wird genau abgebildet, sogar über mehrere Produktionszyklen hinweg. Damit werden alle Einflüsse auf die Bauteiltemperatur, die Erstarrung und prozessbedingten Eigenspannungen und damit letztendlich die Faktoren, welche die Bauteilverformung beeinflussen, berücksichtigt. Es ist nicht mehr nötig, erst ein Werkzeug zu bauen und einen Prozess zu definieren, nur um am Ende festzustellen, dass etwas nicht stimmt. Anhand eines Beispiels wird vorgestellt, wie sich der Virtual Molding-Ansatz von konventioneller Spritzgießsimulation unterscheidet.

Ein tieferes Verständnis

In der Berechnung berücksichtigte Werkzeugkomponenten. (Bildquelle: Sigma Engineering)

In der Berechnung berücksichtigte Werkzeugkomponenten. (Bildquelle: Sigma Engineering)

Die Schwindung von Kunststoffen resultiert aus Veränderungen des spezifischen Volumens und molekularer Kristallisation, die beide stark von den Temperaturen und Drücken abhängen. Jede Änderung der Umgebungstemperatur oder des Prozessdrucks hat einen Einfluss auf die lokale Schwindung des Bauteils und die freie Energie zwischen den Molekülen. Auch nach der Entformung finden noch Änderungen in Molekülabstand und -anordnung statt, die die Formstabilität herabsetzen. Zum Verständnis der Ursachen für den Verzug ist ein Faktor besonders entscheidend: der thermische Gradient des Bauteils zum Zeitpunkt der Entformung. Dieser Gradient beeinflusst direkt eventuell vorhandene isolierte Bereiche, auf die der Nachdruck keine Wirkung hat und die deshalb für den Verzug eine entscheidende Rolle spielen.
Ein Beispiel illustriert diesen Einfluss gut. Ein T-Verteiler aus Polycarbonat mit zehn Prozent Glasfaseranteil soll im Spritzguss produziert werden. Für die spätere Montage ist eine genaue Verzugsvorhersage unerlässlich. Der Verzug wird zuerst mit einem konventionellen Simulationsansatz bestimmt. Dieser Ansatz nimmt eine homogene Werkzeugtemperatur an. Berechnet werden Füllung, Nachdruck und Erstarrung des Bauteils. Ein weiteres Bild zeigt den so unter der Annahme einer gleichförmigen Werkzeugtemperatur vorhergesagten Verzug. Die Enden des Bauteils biegen sich nach unten. Anschließend wird mit Virtual Molding eine zweite Berechnung durchgeführt. Anstatt für die Werkzeugtemperatur einen konstanten Wert anzunehmen, wird die Temperaturverteilung im Werkzeug berücksichtigt und in die Berechnung einbezogen. Zu diesem Zweck werden alle Wärmeübergänge zwischen den jeweiligen Werkzeugkomponenten und der Kunststoffschmelze in der Rechnung berücksichtigt. Die Wärmeübertragung zwischen Temperierkreisen und Werkzeugplatten, der Einfluss von hochleitfähigen Werkzeuglegierungen oder von Heißkanaldüsen und auch die Wärmeabgabe an die Umgebung gehen in die Berechnung ein. Dazu wird die abgebildete Werkzeugkonfiguration anstelle einer einfachen Kavität genutzt.

In der Berechnung werden alle Prozesszeiten – inklusive der Nebenzeiten – über mehrere Produktionszyklen berücksichtigt. (Bildquelle: Sigma Engineering)

In der Berechnung werden alle Prozesszeiten – inklusive der Nebenzeiten – über mehrereProduktionszyklen berücksichtigt. (Bildquelle: Sigma Engineering)

Der Spritzgießprozess wird über mehrere Zyklen komplett virtuell reproduziert. Dies umfasst nicht nur die Phasen Füllen, Nachdruck und Erstarrung, sondern auch die Nebenzeiten zwischen den Zyklen (Zeit zum Öffnen und Schließen des Werkzeugs, sowie zur Entformung des Bauteils). Im vorliegenden Beispiel des T-Verteilers machen die Nebenzeiten zehn Prozent der Zykluszeit aus. Anstelle nur eines Zyklus werden mehrere aufeinanderfolgende Zyklen berechnet, bis für das Werkzeug ein stationärer thermischer Zustand erreicht ist. Genau wie in der Realität, wo vor dem Produktionsstart mehrere Anfahrzyklen gefahren werden, um eine konstante Bauteilqualität zu erreichen, stabilisiert sich das Werkzeug auch in der simulativen Berechnung über mehrere Zyklen.
Die Temperaturverteilung der Auswerferseite nach zehn Spritzgießzyklen zeigt die Temperaturen direkt vor der Entformung des T-Verteilers (nächste Seite oben) und den Zustand kurz vor Schließen des Werkzeuges für den nächsten Zyklus (nächste Seite unten). Zwischen beiden Zuständen liegen 18 s. Während dieser Zeitspanne bleibt das Werkzeug geöffnet, sodass die Kavitätsoberflächen Wärme an die Umgebung abgeben.

Unerkannte Temperaturänderungen

Zwei Dinge werden so deutlich: Zum einen, dass die Annahme einer konstanten homogenen Werkzeugtemperatur als Randbedingung für dieses Bauteil riskant ist. Denn die Temperatur ändert sich nicht nur über die Zeit, sondern variiert auch innerhalb der Kavität um bis zu 15° C.  Zum anderen, dass sich die Werkzeugtemperatur lokal um bis zu 11° C während der 18 s ändert, in denen das Werkzeug offen steht. Eine Berücksichtigung des realen Prozesses und damit auch der Nebenzeiten für die Berechnung ist folglich unerlässlich, um die realen Werkzeugtemperaturen und letztlich die verfügbare Energie zur molekularen Umordnung des Polymers zu betrachten.

Sigma_PV112015_Figure 5-links-before ejection

Werkzeugtemperaturen im Zyklus 10: oben direkt vor der Entformung; unten nach 18 Sekunden offenem Werkzeug

Sigma_PV112015_Figure 5-rechts-start of filling

 

Der mithilfe des Software-Ansatzes vorhergesagte Verzug ist dargestellt. Im Vergleich zur konventionellen Simulation verzieht sich der T-Verteiler in die entgegengesetzte Richtung. Ein späterer Abgleich mit den gefertigten Bauteilen ergab, dass nur der zweite, umfassende Ansatz den Verzug und seine Richtung korrekt abbildet. Der Grund für die entgegengesetzten Vorhersagen in den beiden durchgeführten Szenarien sind die Randbedingungen der Simulation, die in beiden Ansätzen stark voneinander abweichen. Dabei ist der größte Unterschied das Verhältnis des unter Nachdruckeinfluss erstarrenden Polymers zu dem Anteil, der ohne Nachdruck erstarrt. Da die Nachdruckwirksamkeit einen wesentlichen Einfluss auf den Bauteilverzug hat, ist eine korrekte Vorhersage entscheidend für die richtige Bestimmung des Verzugs. Die unterschiedliche Wirksamkeit des Nachdrucks in beiden Ansätzen basiert auf der unterschiedlichen Temperaturverteilung und der sich daraus ergebenden Anordnung der Polymermoleküle. Die Simulation mit der Annahme einer homogenen Werkzeugtemperatur und einer Ein-Zyklus-Rechnung sagt eine falsche Verzugsrichtung vorher. Nur unter Berücksichtigung der kompletten Werkzeugthermik und aller Werkzeugkomponenten über mehrere Produktionszyklen hinweg ist der Anwender in der Lage, den korrekten Verzug zu bestimmen und Überraschungen beim Produktionsanlauf zu vermeiden.

ist für  Sigma Engineering in Aachen tätig.

ist für Sigma Engineering  in Südamerika tätig.

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