September 2010

Als „Dauerläufer“ mit mehreren Millionen Teilen pro Jahr produziert Balda Medical in Bad Oeynhausen unter vielen anderen Kunststoffteilen Lanzettenhalter für eine Stechhilfe, die Diabetikern beim Messen des Blutzuckerspiegels hilft. Die Lanzettenhalter aus teflonmodifiziertem Polyoxymethylen (POM) werden in einem 4-fach-Werkzeug auf einer Arburg 420 S 800–150 gefertigt. Das filigrane technische Teil mit mehreren mechanischen Funktionen weist viele Durchbrüche und Betätigungselemente auf. Ein schlanker Federarm am Fließwegende birgt hierbei das Risiko nicht vollständig ausgeformt zu werden, was zu einer Fehlfunktion der Stechhilfe führen könnte. Dieser Defekt fällt zwar bereits in der nachfolgenden Baugruppenmontage auf, führt aber zu Unterbrechungen im Montageprozess und damit zur Senkung des OEE (Overall Equipment Effectiveness).

Die systematische Analyse der qualitätsrelevanten Prozessparameter ergab einen sehr komplexen Zusammenhang von Materialeigenschaften, Trocknungsbedingungen, Prozessführung und Temperatureinflüssen. Der Fehlerumfang war allerdings zu gering, um den Prozess mithilfe statistischer Methoden im Rahmen eines Six-Sigma-Ansatzes gezielt zu optimieren. Daher verfolgte Balda den Ansatz, Prozessdaten zur Online-Beurteilung der Bauteilqualität heranzuziehen und zu testen, ob insbesondere die Werkzeuginnendruckmessung zuverlässige Aussagen liefert. Dazu wurde das Werkzeug mit Sensoren ausgestattet und ein Überwachungssystem der Firma Kistler installiert, um für einige Wochen die Technologie zu testen und entsprechende Erkenntnisse zu gewinnen.
Allein die Visualisierung des Werk-zeuginnendruckverlaufs ermöglichte schon eine Optimierung und Stabilisierung des Prozesses. Prozessoptimierer Andrej Gossen: „Wir haben den Einspritzdruck erhöht, die druckabhängige Umschaltung von Einspritz- auf Nachdruck eingeführt, die Nachdruckdauer verlängert und schon damit die Formteilqualität gesteigert.“ Die automatische Überwachung der Produktion mit einem Prozessüberwachungssystem CoMo Injection Typ 2869A… brachte bereits nach wenigen Wochen den gewünschten Erfolg. Der technische Leiter Dr. Oliver Pfannschmidt blickt zurück: „Wir haben mehrere Online-Systeme zur Qualitätsüberwachung auf Basis verschiedener Prozessinformationen getestet. Die Werkzeuginnendruckmesstechnik hat uns letztlich den gewünschten Erfolg gebracht. Kein anderes System konnte so sicher und zuverlässig Aussagen über die resultierende Bauteilqualität liefern.“
Auf Basis dieser Erfahrungen stattete Balda Medical alle vier Kavitäten seiner beiden Produktionswerkzeuge mit je einem Drucksensor Typ 6183A… aus. Die Sensoren mit 1 mm Frontdurchmesser messen den Druck nahe an der als kritisch beurteilten Stelle im Formteil. Die Kabel der vier Sensoren führen an den Mehrkanalstecker Typ 1708 an der Werkzeugaußenfläche. Von dort leitet ein Kabel die Sensorsignale zum Prozessüberwachungssystem. Dieses wiederum analysiert den Druckverlauf, stellt ihn auf dem Display dar und steuert die Ausschussweiche an.

Prozessbewertung mit mehreren Auswertefunktionen

Den Druckverlauf bei der Produktion fehlerfreier Teile mit optimaler Qualität hat Balda quasi als Master für die Produktion definiert und das Prozessüberwachungssystem entsprechend parametriert: Für alle vier Kavitäten sind anhand des Druckverlaufs zwei zwingende Kriterien zur positiven Beurteilung der Qualität definiert: Zum einen muss der Werkzeuginnendruck beim Einspritzen innerhalb einer bestimmten Zeitspanne steil ansteigen. Das wird mit einer sogenannten Box überwacht, die aus einem definierten Druckbereich und einem definierten Zeitfenster gebildet wird und vom Druck von unten nach oben durchlaufen werden muss. Zum anderen muss der Nachdruck ein definiertes Mindestniveau überschreiten. Dazu ist ein Schwellwert definiert. Durchläuft der Druckverlauf die Box nicht in der vorgeschriebenen Weise oder bleibt der maximale Druck unter dem Schwellwert zurück, bewertet der CoMo Injection das Formteil als mangelhaft und verweigert der Ausschussweiche das „Gut“-Signal.

Um absolut sicher zu sein, dass kein möglicher Ausschuss in den „Gut“-Behälter gelangt, steht die Ausschussweiche immer auf „Ausschuss“ und schaltet ausschließlich auf das vom Prozessüberwachungssystem bei der Entformung der Lanzettenhalter gesendete Signal kurz auf „Gut“. So ist sicher gestellt, dass auch bei einem möglichen Defekt der Ausschussweiche oder Störungen in seiner Stromversorgung keinesfalls ein Schlechtteil als „Gut“ klassifiziert werden kann.
Obwohl Analyse und Bewertung durch das System in Echtzeit, also in Sekundenbruchteilen erfolgen, hat der Verantwortliche einen einfachen Einblick in den Prozess: Die Druckverläufe aller vier Kavitäten lassen sich auf dem Touch-Display überblendet darstellen, so dass er die Prozessqualität bereits mit einem einzigen Blick beurteilen kann.
Die Prozessüberwachung ist nicht der einzige Nutzen des werkzeuginnendruckbasierten Arbeitens. „Auch beim Umrüsten und Einrichten haben wir Vorteile“, stellt Produktionsleiter Rainer Koops fest: „Wir fahren zügiger an, erreichen schneller einen stabilen Prozess und haben dabei weniger Anfahrausschuss.“ Andrej Gossen: „Heute reicht ein Blick auf den Druckverlauf und wir wissen, ob der gewählte Betriebspunkt tatsächlich optimal im definierten Prozessfenster liegt.“
Das Ziel, Prozesskonstanz zu realisieren und Ausschuss auszuschließen, verfolgt Balda konsequent. Trotz der guten Erfahrungen mit der Werkzeuginnendrucküberwachung wollte man aber nichts überstürzen. „Seit drei Jahren haben wir Drucksensorik im Haus, und sie hilft nachweislich bei der Problemlösung bzw. -vermeidung. Drucksensorik ist definitiv sinnvoll, vorausgesetzt das notwendige Know-how zum Umgang und Pflege des Systems ist verfügbar“, erklärt Oliver Pfannschmidt. „Deshalb haben wir eine breite Einführung zunächst zurückgestellt, um eben dieses notwendige Know-how für den Prozess aufzubauen. Wir haben unsere Mitarbeiter intensiv geschult und Ihnen die Möglichkeit gegeben, eigene positive Erfahrungen zusammeln, um erst dann die Technologie breiter und vor allem nachhaltig einzuführen.“
Mit den guten Erfahrungen aus der Produktion der Lanzettenhalter stattete der Kunststoffverarbeiter auch beide Kavitäten eines Werkzeugs aus, das zwei Gehäusehälften für Blutzuckermessgeräte herstellt. Diese Halbschalen aus PC/ABS-Blend weisen auf der Innenseite zahlreiche Anschlussflächen und Verschraubungspunkte in Form von Schraubdomen auf, bei denen es gemäß der Fließsimulationen zu mangelhafter Ausformung filigraner Strukturen kommen könnte.
Das Zweifach-Werkzeug läuft auf einer vollelektrischen Engel e-max 100 mit Impulskühlung und einer nachgeschalteten Tray-Stapelanlage. Das Handlingsystem wird von CoMo Injection angesteuert. So legt dieses nur das Teil aus der Kavität mit abweichendem Druckverlauf zur Aussonderung ab. Die vom Prozessüberwachungssystem für gut befundenen Teile gelangen in die Nester eines Trays und später in die hausinterne vollautomatische Montage. Unausgeformte Verschraubungsdome würden die Montage des Fertigteils unmöglich machen und zudem noch zu Stillständen in der Montagelinie führen. Andrej Gossen: „Hier haben wir eine Menge in die Optimierung des Prozesses gesteckt. Wir konnten mit der Impulskühlstrategie für sechs Kühlkreise die Zykluszeit um 30 Prozent verkürzen. Und die Werkzeuginnendrucküberwachung sichert uns 100 Prozent Qualität.“

Strategie für stetige Lieferfähigkeit

Balda Medical verfügt sowohl für die Lanzettenhalter als auch für die Gehäuseschalen über je zwei Werkzeuge, die sich im Betrieb abwechseln. Damit bietet der Medizintechnikspezialist seinen Auftraggebern Produktions- und Liefersicherheit, weil immer ein Werkzeug frei zur hausinternen Wartung und Revision ist. Der Verarbeiter rüstet die Spritzgießwerkzeuge bei Bedarf auch intern mit Drucksensoren nach, während neue Werkzeuge bei externen Werkzeugmachern in Auftrag gegeben und bereits dort mit Sensorik bestückt werden.

Wie breit der Medizintechnikspezialist die werkzeuginnendruckbasierte Qualitätssicherung einführen? Oliver Pfannschmidt erklärt die beiden Extrempositionen: „Mehrere Strategien sind möglich: Erstens: Drucksensorik wird nur ereignisbasiert eingesetzt, weil sich bei bereits laufender Produktion Formteildefekte bzw. Prozessmängel gezeigt haben. Zweitens: Wegen der guten Erfahrungen mit werkzeuginnendruckbasierter Prozessüberwachung werden alle Werkzeuge pauschal mit Sensorik ausgestattet.“

Keine der beiden Extrempositionen will Balda einschlagen. „Wir fahrenden kompromisslosen Mittelweg, den Weg auf Grundlage eines risikobasierten Ansatzes“, erklärt der technische Leiter: „Wir analysieren jedes Formteil und entscheiden individuell, ob das Fehlerrisiko eine Überwachung notwendig macht.“ Auch bei einem wichtigen neuen System, das sich aus mehr als 20 einzelnen Kunststoffkomponenten zusammensetzt, wird Balda Medical so agieren, skizziert Pfannschmidt: „Alle Spritzgießprozesse zur Herstellung der Einzelkomponenten wurden inzwischen einer Risikoanalyse unterzogen. Überall da, wo der Prozess zu komplex und risikobehaftet ist, setzen wir Werkzeuginnendrucksensorik ein, um Prozessinformationen zu sammeln, sichere Prozesse zu etablieren und eine Online-Beurteilung der Bauteilqualität zuzulassen.“

Erhöhte Marktchancen
Werkzeuginnendruckmessung

Bei der Produktion von Lanzettenhaltern und Gehäusen für Blutzuckermessgeräte hat sich Balda Medical aufbauend auf Prozessanalysen zur Qualitätsüberwachung für ein werkzeuginnendruckbasiertes System entschieden. So sichert der Kunststoffverarbeiter die Qualität, schleust Ausschuss aus dem Prozess und vermeidet Probleme in der Montage. Zudem beschleunigt das System das Anfahren der Spritzgießproduktion nach dem Werkzeugwechsel.

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