Das Kupplungsgehäuse dieser Motorräder ist aus einem besonderen FVK, dessen Verarbeitungseigenschaften Bauteilmerkmale zulassen, die bisher nur Metallbauteile erreichten.

Das Kupplungsgehäuse dieser Motorräder ist aus einem besonderen FVK, dessen Verarbeitungseigenschaften Bauteilmerkmale zulassen, die bisher nur Metallbauteile erreichten. (Bild: Magura)

„Niemals werden wir Kunststoff-Teile bei unseren Zweirädern verbauen.“ Der Verantwortliche bei BMW, der diese Aussage traf, befindet sich in guter Gesellschaft, denn sie ist ebenso falsch wie die berühmte Feststellung von Bill Gates, dass vermutlich 640 kB für jeden Nutzer eines Computers ausreichen würden. Eine Aussage, die dieser später dementierte. Eine andere Art von Dementi lebt der Automobil- und Zweiradhersteller. Denn heute – einige Jahre nach dieser Aussage – ist BMW einer der zufriedensten Kunden von Magura, Bad Urach, und somit auch deren Sparte Kunststofftechnik, Hülben als interner Zulieferer für Kunststoffkomponenten.

Die Produktion von Kunststoffteilen begann bereits 1957. Wirklich Fahrt aufgenommen hat das Geschäft mit den Bikeparts aus faserverstärktem Kunststoff aber mit der Entwicklung des eigenen Werkstoffs Carbotecture, der ein spezifisches Gewicht von nur 1,3 g/cm³ aufweist und damit sehr leicht ist. Zum Vergleich besitzt ein GFK ein spezifisches Gewicht von etwa 1,9 g/cm³, Aluminium von etwa 2,7 g/cm³. Mit diesem Werkstoff, der im Auftrag des Unternehmens bei einem externen Compoundierer hergestellt wird, gelingen Teile, die so vorher nicht denkbar waren. Aufgrund seiner Eigenschaften kann dieses Material besondere Anforderung-en an die mechanische Festigkeit und die Oberflächenqualität – vor allem auch im Leichtbau – erfüllen. Die Anforderungen an einen Bremshebel oder eine Bremsarmatur eines Mountainbikes sind hinlänglich bekannt. Neuentwicklungen haben heute in der Hauptsache eine erleichterte Bedienung zum Ziel. „Wir haben hier zum Beispiel eine werkzeuglose Griffweitenverstellung mithilfe eines Schiebereglers aus Kunststoff“, beschreibt Christoph Kern, Leiter Technik, die Funktionserweiterung am Betätigungshebel, „damit der Fahrer die Bremse optimal bedienen kann“. Durch diese Verstellung – einen Schieber aus Kunststoff – kann der Abstand des Griffs vom Fahrradlenker variiert und die Griffweite so an die Größe der Hand angepasst werden.

Leichtbau und Funktionsverbesserungen

Sicherheitsrelevante Bauteile aus faserverstärktem Kunststoff für Motorrad und Mountainbike (Bildquelle: Magura)

Sicherheitsrelevante Bauteile aus faserverstärktem Kunststoff für Motorrad und Mountainbike (Bildquelle: Magura)

Der Prozess der Produktentwicklung beginnt bei Fahrradarmaturen mit einem Lastenheft, das durch das Produktentwicklungs-Team in ein Pflichtenheft umgewandelt wird. „In diesem Team sitzt immer bereits ein Mitarbeiter aus der Kunststofftechnik, der sich als Teilprojektleiter anschließend um die Kunststoffteile kümmert“, erzählt Detlef Glaser, Leiter Geschäftsfeld Kunststofftechnik. Man legt großen Wert auf den interdisziplinären Austausch schon in dieser frühen Phase, damit die Iterationsschleifen in der Produktentwicklung minimiert werden können. Geachtet wird dabei vor allem darauf, ob das Teil später wirtschaftlich herzustellen ist – und welcher Werkstoff infrage kommt.

So hat auch der 3D-Druck in der Produktentwicklung seit etwa zwei Jahren eine wichtige Funktion. Ein Drucker von Stratasys, Rheinmünster, stellt aus Kunststoff-Filament ein 3D-Modell her, das zu Testzwecken sogar ans Fahrrad montiert werden kann. „Hat man das Produkt vor sich, so können alle Beteiligten ein viel besseres Gefühl für das Produkt entwickeln, Designentwürfe besser beurteilen“, weiß Kern um die Vorteile der frühen haptischen Beurteilung. Für Verzug- und Füllsimulationen, die aufgrund der komplexen Geometrie der Kunststoffteile sehr wichtig sind, setzt das Unternehmen mit Moldex 3D eine Simulationssoftware von Simpatec, Aachen, ein. Dabei sind häufig viele Schleifen erforderlich, um schwierige Punkte wie das punktgenaue – zum Teil konturnahe – Temperieren, das Vermeiden von Verzug und die Bindenähte exakt den Anforderungen und dem Werkstoff anzupassen, damit in der Serienproduktion später die Qualität stimmt. Es gibt einerseits dank umfangreicher Erfahrungen heute Projekte, so Kern, bei denen das Bauteil genauso entformt werden kann, wie es in der Simulation berechnet wurde. Auf der anderen Seite kommt es auch vor, dass auf Prototypenwerkzeugen 100 oder 1.000 Teile hergestellt werden müssen, um nochmals Tests zu fahren – Material- und Funktionstests. Diese sind trotz Einsatz der CAD/FEM-Software Solidworks von Dassault Systemes, Stuttgart, notwendig. „Hier arbeiten wir zum Teil schon überlappend, um Zeit zu gewinnen. Denn auch, wenn wir viel Erfahrung haben, manchmal verzieht sich ein Teil an einer Stelle, an der wir es einfach nicht erwartet haben“, so Glaser.

Das Fertigungskonzept“, so berichtet er selbstbewusst, „machen wir in der Regel selbst.“ Ebenso die Kostenabschätzung für die komplette Fertigungszelle mit den Hauptbestandteilen Spritzgießmaschine, Automatisierung und Qualitätssicherung. Bei einem Kundenprojekt wird meist ein Anteil an der Automatisierung teilespezifisch weiterberechnet. „Und erst wenn der Kunde bei uns bestellt, dann fragen wir unsere Zulieferer an. Denn im Schnitt bieten wir pro Jahr etwa 1.000 Teile an, das sind pro Tag drei Angebote.“ Eine Menge, die für keinen Spritzgieß-Maschinenhersteller oder anderen Zulieferer effizient handhabbar wäre.

Miteinander reden verbessert die Effizienz

Blick in die Produktionshalle (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

Blick in die Produktionshalle (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

Die Werkzeuge für das Spritzgießen werden zu 60 Prozent in Asien eingekauft. In diese beständige Partnerschaft hat das Unternehmen viel Zeit und Aufbauarbeit investiert, sodass heute die Werkzeuge im unteren und mittleren Schwierigkeitsgrad aus China kommen. Diese werden dann in Deutschland bemustert und hier vor Ort final frei gefahren. „In Portugal haben wir ebenfalls zwei Lieferanten, die wir über die letzten vier Jahre aufgebaut haben, einer davon ist Leomavel in Marinha Grande, Portugal. Denn wir wären heute nicht mehr wettbewerbsfähig, wenn wir nicht einen Teil der Werkzeuge im Ausland zukaufen würden“, lässt Glaser einen kurzen Moment auch einen Einblick in den enormen Kostendruck zu. Dabei legt er bei der Beschaffung – wie auch schon in der Produktentwicklung – großen Wert auf direkte Kommunikation mit den Lieferanten, die bei den technisch anspruchsvollen Produkten unabdingbar ist. „Wir haben Konstrukteure aus Portugal eine Woche im Haus gehabt und bei uns geschult – damit wir besser miteinander kommunizieren können, und jeder vom anderen weiß, worüber genau man spricht und wie die Anforderung-en sind.“ Darüber hinaus leistet sich das Unternehmen aber auch einen eigenen Formen- und Werkzeugbau im Werk Bad Urach, um besonders komplexe, anspruchsvolle Werkzeuge oder solche mit strategischem Know-How selbst bauen zu können. Dies betrifft etwa 10 Prozent der 60 bis 80 Neuwerkzeuge pro Jahr. Mehr als 750 aktive Werkzeuge hat das Unternehmen im Einsatz und produziert damit über 1.100 verschiedene Produkte. Um die Anzahl an Werkzeugen etwas zu begrenzen, werden hierfür viele Wechseleinsätze verwendet.

Die eigene Erfahrung spielt das Unternehmen aber nicht nur im Werkzeugbau aus. Ein Durchbruch, technisch anspruchsvolle Teile aus Kunststoff für den Fahrradsport herzustellen, war 2010 die Entwicklung des eigenen Werkstoffs Carbotecture, einem mit 30 Prozent Kohlefaser-verstärktem Spezial-PA, das nicht nur ein besonders niedriges spezifisches Gewicht von 1,3 g/cm³, sondern auch eine hohe mechanische Festigkeit und vor allem eine sehr gute Verarbeitbarkeit im Spritzguss mitbringt. Dieses Material wird exklusiv für Magura bei einem externen Compoundeur hergestellt. Daneben verarbeitet das Unternehmen etwa 180 verschiedene Thermoplaste aus dem Hochleistungssektor – von PVC bis PEEK – sowie TPE und Elastomere. Deren Aufbereitung und Verteilung übernehmen Mischer, Trockner und Dosierer von Helios, Rosenheim, sowie Werner Koch, Ispringen.

Konstruktiver und werkstofflicher Leichtbau

Aus dem eigenen Werkstoff wird seit 2013 beispielsweise ein Zylindergehäuse für die BMW 1200 GS gefertigt, das vorher aus Aluminium-Druckguss oder in einem Aluminium-Schmiedeprozess hergestellt wurde. Leichtbau ist hier das Schlüsselwort, aber auch die Kosteneffizienz war ein ausschlaggebendes Argument für die Auftragsvergabe an Magura. Denn aufgrund des weitaus schlankeren Fertigungsprozesses können die Teile aus CFK innerhalb eines Tages gespritzt werden, die Produktion des Aluminium-Teils dauert dagegen etwa vier Wochen. Dieser Zeitvorteil ist bares Geld wert, denn entsprechend schnell können auch Fehler im Laufe der Entwicklung und Fertigung eliminiert werden.

Besonders anspruchsvoll ist die hochglatte Innenfläche der Kolbenführungen, wenn das Bauteil aus 50 Prozent faserverstärktem PA gefertigt wird. (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

Besonders anspruchsvoll ist die hochglatte Innenfläche der Kolbenführungen, wenn das Bauteil aus 30 Prozent faserverstärktem PA gefertigt wird. (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

BMW hatte für dieses Bauteil einen Lieferantenwettbewerb ausgeschrieben. Die besonderen Anforderungen: neben der Festigkeit auch ein fertig geformtes Anschlussgewinde und einen Kolbenraum mit sehr glatter Innenfläche, um die Dichtigkeit zu gewährleisten. Um solche Anforderungen in der Kunststoff-Realität umsetzen zu können, bedarf es eines ganz besonderen Spritzgieß-Know-Hows. Die Kolbenführungen müssen hochglatte Innenflächen aufweisen, die auch mit dem zu 30 Prozent faserverstärktem Kunststoff erreicht werden. Gleichzeitig müssen über die gesamte Länge des Kolbenraums die H9-Passungen und die geforderte Rundheit gewährleistet sein – Werte, die eigentlich aus der Konstruktion des Metallbauteils stammen. Werkzeugtechnische Herausforderungen sind die gratfreien Verschneidungen der langen Stifte, da sich lösende Grate immer zu Undichtigkeiten führen – in diesem Fall zum möglichen Ausfall eines sicherheitsrelevanten Systems beim Motorrad. Ein weiterer Punkt ist die Berechnung und Umsetzung einer definierten Sollbruchstelle, die an diesem Teil vorgesehen ist. Hier sind Maximalkräfte zum Brechen vorgegeben, die nur wenig unterschritten werden sollen, um auf der anderen Seite möglichst robuste und langlebige Teile ausliefern zu können. Weiter zählen zu den besonderen Fertigkeiten in Hülben die Gewinde-Entspindelung sowie Kolben in 2K-Technik (hart/weich).

Drei Maschinenhersteller sind in der Spritzerei vertreten - auf zwei davon setzt das Unternehmen zukünftig. (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

Drei Maschinenhersteller sind in der Spritzerei vertreten - auf zwei davon setzt das Unternehmen zukünftig. (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

Die Produktion ist mit 42 Spritzgießmaschinen – hauptsächlich von Arburg, Loßburg, und Engel, Schwertberg, Österreich – bestückt. Die Schließkräfte reichen von 120 bis 2.000 kN, wobei der Trend – so Glaser – eindeutig Richtung größerer Maschinen bis 3.500 kN gehen wird. Einige ältere Maschinen vom Sumitomo Demag sind auch zu sehen. Glaser begründet diese Zusammensetzung und seine strategische Konzentration auf zwei Maschinenhersteller mit den spezifischen Vorteilen der beiden Maschinen: „Bei komplexen Werkzeugen, das heißt großen Werkzeugen mit kleinen Teilen, setzen wir hauptsächlich Engel-Maschinen ein. Denn die holmlosen Maschinen haben hier den entscheidenden Vorteil, dass wir mit kleineren Maschinen arbeiten können, da der Bauraum für die Werkzeuge groß genug ist, weil kein Holm stört. Technologisch unterscheiden sich beide Fabrikate kaum. Der Vorteil bei Arburg ist das Allrounderprinzip. Das ist für uns entscheidend, wenn wir beim Rüsten auch die Zylinder tauschen, also einmal eine 15er Schnecke, dann wieder ein 18er, eine 20er oder eine 30er – je nach Anwendung. Und dank des besonderen Bauart-Prinzips können die materialspezifischen Zylindergarnituren auch zwischen den Baureihen der Maschinen getauscht werden“. Bei über 1.000 verschiedenen Produkten und bei Kleinserien von ungefähr 1.000 Stück pro Jahr bis hin zu Großserien mit etwa 36 Millionen Bauteilen pro Jahr spielt das Vereinfachen der Rüstvorgänge in der Produktion für den Verarbeiter eine wichtige Rolle. Die Maschinen selbst bleiben in der Regel etwa zwölf Jahre im Unternehmen, danach werden sie ausgetauscht.

 

 

Die Qualitätssicherung spielt bei den sicherheitsrelevanten Bauteilen eine besondere Rolle. (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

Die Qualitätssicherung spielt bei den sicherheitsrelevanten Bauteilen eine besondere Rolle. (Bildquelle: Redaktion Plastverarbeiter / ck)

Da es sich bei dem Kupplungshebel für das Motorrad und den Bremshebeln für das Mountainbike um sicherheitsrelevante Systeme handelt, sind die Anforderungen an die Qualität seitens der Abnehmer besonders hoch. Der Zulieferer trägt hier die volle Verantwortung und Dokumentationspflicht. Aus diesem Grund arbeitet das Unternehmen unter anderem mit einer Bildverarbeitung von Qualycheck, Eigeltingen, die in den Fertigungszellen die Teileprüfung übernimmt. Jedes einzelne QS-System wird dabei nach den Anforderungen des Kunststoffverarbeiters konzipiert. Denn die Bandbreite der in Hülben hergestellten Produkte ist insofern bemerkenswert, als nicht nur die Bauteilgewichte – von 0,02 g bis etwa 500 g, sondern auch die Materialien und Geometrien höchst unterschiedlich sind. Die Erfahrung macht den Unterschied – darauf vertraut Magura nicht nur bei den Zulieferern, sondern auch in der Entwicklung und Fertigung der eigenen Produkte.

 

Christine Koblmiller
Christine Koblmiller

ist Redakteurin des Plastverarbeiter. christine.koblmiller@huethig.de

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MAGURA Gustav Magenwirth GmbH & Co.

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