Der Applikator vereinfacht das Anbringen eines Clips, mit dem ein Proktologe Verletzungen des Darms verschließt. Das Gerät besteht aus biokompatiblen Materialien, weshalb es mit additiven Verfahren nicht hergestellt werden konnte.

Der Applikator vereinfacht das Anbringen eines Clips, mit dem ein Proktologe Verletzungen des Darms verschließt. Das Gerät besteht aus biokompatiblen Materialien, weshalb es mit additiven Verfahren nicht hergestellt werden konnte. (Bild: Ovesco)

Typische Rahmenbedingungen bei heutigen Neuentwicklungen sind ein starker Wettbewerb, kurze Produkt­lebenszyklen und ein hoher Kostendruck bei steigenden Qualitätsanforderungen. Hatten Hersteller früher noch Monate oder sogar Jahre Zeit, ein neues Produkt zur Marktreife zu entwickeln, schrumpft das Zeitfenster heute oftmals auf wenige Wochen. Dies ist ein Grund, warum der Hype um additive Verfahren nicht abreißt. Beinahe täglich erscheinen Meldungen zu neuen Bereichen, die von additiver Fertigung profitieren. Tatsächlich haben sich Methoden, Anlagen und Materialien in den letzten Jahren enorm verbessert und die Preise sind gesunken. Auch für den Heimbereich werden 3D-Drucker angeboten. Der Tenor lautet: „Schnell, einfach und günstig fertige Teile ohne Werkzeug produzieren.“ Leider stimmt diese Botschaft nur bedingt. Die Auswahl der zur Verfügung stehenden Werkstoffe ist nach wie vor vergleichsweise gering. Stellt ein potenzieller Anwender dann noch Ansprüche an besondere Materialeigenschaften, schrumpft die Liste weiter oder bietet gar keine passende Alternative mehr. Entwickler und Konstrukteure nutzen additive Verfahren deshalb in erster Linie, um plastische Modelle von Teilen zu generieren, die im Wesentlichen optischen Kriterien gerecht werden. Sie eignen sich als Anschauungsobjekte, Ausstellungsstücke oder Handmuster. Sobald sie jedoch in den realen Einsatz kommen, versagen die Muster ihren Dienst. Weder lassen sich mit ihnen umfassende Aussagen über das Verhalten des Serienteils treffen, noch kann sie ein Prüflabor für Langzeittests verwenden, da sie nicht dem Serienmaterial entsprechen.

Nachdem der Kunde das CAD-Modell hochgeladen hat, macht das Online-Tool automatisch Verbesserungsvorschläge und weist auf Problemstellen hin. Bei diesem Modell änderte der Auftraggeber aufgrund dessen unter anderem die Öffnungen für die Befestigungsschrauben und die klappbare Auslösesicherung am Abzug. (Bildquelle: Ovesco)

Nachdem der Kunde das CAD-Modell hochgeladen hat, macht das Online-Tool automatisch Verbesserungsvorschläge und weist auf Problemstellen hin. Bei diesem Modell änderte der Auftraggeber aufgrund dessen unter anderem die Öffnungen für die Befestigungsschrauben und die klappbare Auslösesicherung am Abzug. (Bildquelle: Ovesco)

Spritzguss oder 3D-Druck?

Dennoch stehen die Hersteller vor dem Problem, dass sie oftmals zu Beginn einer neuen Entwicklung noch gar nicht absehen können, wie groß die spätere Serienfertigung sein wird. Betriebswirtschaftlich ideal wäre ein kostengünstiger Start mit einer kleinen Losgröße, um zu sehen, wie der Markt das Produkt annimmt. Sobald die Stückzahlen steigen, könnte der Hersteller in die Massenproduktion übergehen. Ein Hindernis bei dieser Betrachtung sind die hohen Fixkosten, sofern man von einer klassischen Spritzgussfertigung ausgeht. Denn da der Hersteller Funktionsteile mit einer großen Materialauswahl möchte, ist es notwendig, vor dem Produktionsstart ein mehr oder minder komplexes und damit teures Werkzeug herzustellen. Der Konstrukteur spart sich deshalb viel Zeit und Arbeit, wenn er Kunststoffteile von Beginn an so konstruiert, dass sie mittels Spritzguss gefertigt werden können. Die Berücksichtigung von Hinterschnitten, Formschrägen, Wandstärken, Auswerfer- und Anspritzpunkten ersparen später teure Änderungen.

Dagegen sind additive Verfahren nicht an solche Restriktionen gebunden. Der Designer kann sich frei der Formgebung hingeben, sofern er nicht ein Verfahren wählt, das Stützkons­truktionen erfordert. Zwar sind die Fixkosten zunächst gering. Erwägt der Hersteller allerdings eine spätere Serienfertigung, ändern sich die Bedingungen. Das additive Verfahren wird zu langsam und unwirtschaftlich. Eine Konstruktion, die ursprünglich für den 3D-Druck erstellt wurde, muss auf Serienfertigungs-Tauglichkeit geprüft und gegebenenfalls geändert werden. Diese relativ späten Änderungen ziehen erhebliche Folgekosten nach sich – im Gegensatz zu Änderungen in einer frühen Phase der Produktent­stehung. Dies gilt insbesondere dann, wenn bereits ein Werkzeug erstellt wurde. Ein Stahlwerkzeug schlägt mit mehreren zehntausend Euro zu Buche. Befindet sich ein fehlerhaftes Produkt bereits im Umlauf, drohen weitere Kosten durch Reputationsverlust, Rückrufaktionen oder Haftungsforderungen.

Gunnar Anhöck, Projektleiter bei dem Medizintechnikhersteller Ovesco, lässt die erste Serie neuer Produkte auf Aluminium-Spritzgusswerkzeugen fertigen, bis sich der Einsatz eines Stahlwerkzeuges lohnt. (Bildquelle: Ovesco)

Gunnar Anhöck, Projektleiter bei dem Medizintechnikhersteller Ovesco, lässt die erste Serie neuer Produkte auf Aluminium-Spritzgusswerkzeugen fertigen, bis sich der Einsatz eines Stahlwerkzeuges lohnt. (Bildquelle: Ovesco)

Zeit und Kosten sparen

Gibt es also eine Lösung, die die Einfachheit und Schnelligkeit von additiven Verfahren mit der Serientreue und Zuverlässigkeit von klassischem Spritzguss bei niedrigen Kosten verbindet? Gerade für Kleinserien wäre ein solches Verfahren eine Alternative. Anforderungen, die auch der Medizintechnikhersteller Ovesco Endoscopy, Tübingen stellte. Das Unternehmen entwickelt, produziert und vertreibt Produkte für die Behandlung von Erkrankungen im Verdauungstrakt. Sein wichtigstes Produkt ist der Over-The-Scope-Clip (OTSC, zu Dt. etwa „über den Anwendungsbereich hinaus“), mit dem sich beispielsweise Wunden im Darm verschließen lassen. Klinische Studien zeigten, dass das OTSC-System erfolgversprechend ist und über die Anwendung in der Inneren Medizin hinaus Verbreitung finden könnte. Für die Applikation eines neuen Clips in der Proktologie entwickelte das Team um Gunnar Anhöck, er ist verantwortlich für die Produktentwicklung und die Produktion bei Ovesco, einen passenden Applikator mit Kunststoff­gehäuse – das OTSC-Proctology. Damit soll vor allem die operative Behandlung leichter und sicherer für den Patienten werden. „Eine Behandlung ist sehr schwierig und bringt oft Verletzungen des Schließmuskels oder eine Verlegung der Darmschleimhaut mit sich, die entsprechende Komplikationen verursachen“, erläutert Anhöck. „Daher stießen wir auf große Resonanz bei den Proktologen. Jetzt galt es, schnell erste Produkte zur Verfügung zu stellen.“

Serienteile für Vorserientests

Trotz seines Optimismus musste sich Anhöck mit den üblichen Risiken auseinandersetzen. Denn der Applikator sollte aus biokompatiblem und zertifiziertem Kunststoff bestehen. Additive Verfahren schieden damit aus, um Vorserienteile für Tests herzustellen. Aber hohe Werkzeugkosten rechtfertigen sich erst, wenn Anhöck sicher sein kann, dass er die Teile nicht mehr ändern muss und sie in großen Stückzahlen produziert werden. Beide Bedingungen erfüllte das neue Produkt noch nicht. Außerdem erfordert eine Zulassung für den medizinischen Einsatz umfassende Produktsicherheitstests, wie zeitintensive Biokompatibilitätsuntersuchungen und Funktionstests. Anhöck erklärt: „Dann sind wir auf den Anbieter Proto Labs gestoßen.“ Das Unternehmen bietet auf Basis einer Internetplattform in Verbindung mit aktueller CAD/CAM-Technologie eine moderne Fertigung und Logistik, um schnell Spritzgießteile herzustellen und zu versenden. Den Ursprung hat das Unternehmen in den 90er Jahren, als sich Firmengründer Larry Lukis ­darüber ärgerte, dass die Prozesskette der Produktentwicklung an der Schnittstelle von der virtuellen Welt des CADs zur realen Welt der Produktion derart ausgebremst wurde. Seine Vision war, echte Kunststoffteile, und keinen minderwertigen Ersatz, auf Knopfdruck zu erhalten. Und zwar ohne tage- oder sogar wochenlanges Warten auf Angebote, Werkzeugherstellung und erste Lieferung.

Vom CAD-Modell zum fertigen Spritzgussteil in drei Wochen

Inzwischen verfügt das Unternehmen in den USA und Europa über große Fertigungszentren. Um eine Bestellung aufzugeben, meldet sich der Kunde auf der Internetplattform an, lädt ein CAD-Modell des zu fertigenden Kunststoffteils hoch und gibt seine gewünschten Parameter zu Stückzahl, Material, Oberflächenbeschaffenheit, Farbe und Lieferzeit ein. Letztere variiert von einem bis 15 Werktage. Innerhalb von wenigen Minuten erhält der Kunde ein verbindliches, webbasiertes Angebot inklusive Machbarkeitsanalyse des Modells: In einer beweglichen 3D-Darstellung werden Problemstellen in seinem Angebot farbig markiert und mit Hinweisen zur Verbesserung versehen. Diesen kostenlosen Abgleichprozess wiederholt der Kunde beliebig oft, bis das Modell seinen Anforderungen entspricht. Darüber hinaus stehen zu den Bürozeiten Kunststoffspezialisten telefonisch zur Verfügung, die Tipps und Anregungen ­geben. Das ermöglicht es auch Nichtfachleuten, spritzgussgerechte Modelle zu konstruieren. Veränderte Preise aufgrund angepasster Parameter zeigt das Programm sofort an. Stehen alle Zeichen der Konstruktionsprüfung auf Grün, genügt ein Knopfdruck, um die Bestellung auszulösen.

Optimierungen auch im Nachhinein möglich

Die Daten gehen im europäischen Fertigungszentrum in Telford, England ein, wo sich sofort Spezialisten in einem hochautomatisierten Fertigungspark um die Produktion kümmern. Die Werkzeuge bestehen aus Aluminium und verbleiben stets beim Auftragnehmer. Sollten sie nicht mehr funktionsfähig sein, erneuert sie Proto Labs ohne weitere Kosten für den Kunden. Dieser bezahlt und bekommt immer nur die bestellten Teile. Auf diese Weise lassen sich Kleinserien kurzfristig realisieren.

Projektleiter Anhöck fasst seine Erfahrungen mit dem Express-Spritzgussverfahren zusammen: „Sämtliche Teile des OTSC-Proctology-Applikators erhielten wir in 15 Tagen. Unser Standard-Werkzeuglieferant hätte dazu zwölf bis 15 Wochen gebraucht, bei dreifachen Kosten. Darüber hinaus sind wir flexibel, falls spätere Änderungen notwendig sein sollten.“ Das Unternehmen nahm zudem die Unterstützung seitens des Anbieters in Anspruch, um die Konstruktion der 3D-Modelle zu optimieren. „So haben wir die Anbringung der Öffnungen für die Befestigungsschrauben, unterschied­liche Oberflächenstrukturen am Griff, eine klappbare Auslösesicherung am Abzug, die jeweiligen Anspritzpunkte und Auswerferabdrücke sowie die Verbindung der Applikationskappe mit der Metallführung verbessert“, führt Anhöck aus. Heraus kamen perfekte Teile innerhalb kurzer Zeit, ohne typische Fehler wie Lunker, Bindenähte, Schlieren oder Einfallstellen. Für die Produktion stellte der Medizintechnik-Hersteller sein medizinspezifisches Material zur Verfügung. Mittlerweile gehört der Express-Spritzguss zum festen Bestandteil der Produktentwicklung des Unternehmens. „Wir bestreiten damit die erste Serie und überbrücken dadurch die Phase, bis sich ein Stahlwerkzeug lohnt“, sagt Anhöck.

Lead Customer Service Engineer bei Protolabs in Mosbach.

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