In der Produktion der Zukunft unterstützen mobile Kommunikationsmittel wie Mobiltelefone oder an der Montagestelle angebrachte Tabletcomputer die Mitarbeiter.

In der Produktion der Zukunft unterstützen mobile Kommunikationsmittel wie Mobiltelefone oder an der Montagestelle angebrachte Tabletcomputer die Mitarbeiter. (Bild: ABB)

In Zukunft werden Internettechnologien in Fabriken und Kraftwerken Einzug halten – mit dem Potenzial, die Automatisierung zu revolutionieren. Das Zukunftsprojekt der Bundesregierung „Industrie 4.0“ trug dazu bei, das Schlagwort in Deutschland zu etablieren. Industrie 4.0 ist zugleich ein Synonym für die vierte industrielle Revolution. Als die ersten drei Schritte gelten die frühe Industrialisierung mit dem Einsatz der Dampfmaschine (1), die Produktion mithilfe von Fließbändern ab 1870 (2) und die Steuerung von Anlagen und Prozessen durch Speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) seit den 60er-Jahren (3).

Mit Industrie 4.0 eröffnet sich eine neue Welt von Innovationsmöglichkeiten. Die dynamische Vernetzung von Produkten, Geräten und Anlagen ermöglicht neue Formen der Flexibilität. Früher wurde alles handgefertigt, später kam die industrielle Massenproduktion, heute halten individuelle Produkte wieder Einzug in Produk­tionsprozesse: zum Beispiel Fahrzeuge, deren Ausstattung exakt den Kundenwünschen entspricht. Diese Flexibilisierung der Produktion nimmt zu.

Ein wichtiger technischer Aspekt von Industrie 4.0 besteht darin, jedem physischen Objekt in einer Produk­tionsanlage ein Datenmodell im Netz zuzuordnen. Internettechnologien vernetzen diese Datenobjekte miteinander. Die dadurch entstehenden Möglichkeiten sind so vielfältig wie unüberschaubar.

Investitionen in Höhe von 1,35 Billionen Euro notwendig

Obwohl Industrie 4.0 schon heute viele Diskussionen und Entwicklungs­prozesse in Industrieunternehmen bestimmt, wird das Thema in Zukunft noch wichtiger, wie Untersuchungen nahelegen. Die Roland-Berger-Studie „Industrie 4.0 – The new industrial revolution – How Europe will succeed“ beispielsweise kommt zu dem Schluss, dass Europa hier an Bedeutung gewinnen kann und diese Chance nutzen sollte. Um der Industrie 4.0 zum Durchbruch zu verhelfen, seien in den kommenden 15 Jahren laut Roland Berger europaweit Investitionen in Höhe von 1,35 Billionen EUR notwendig.

In diesem Zusammenhang stellen die Marktforscher von Pierre Audoin Consultants fest, dass heute bereits 15 Prozent der mittelständischen deutschen Fertiger Industrie-4.0-Technik einsetzen. Automotive-Unternehmen nehmen hier eine Vorreiterrolle ein: 80 Prozent setzen auf intelligente Produktionsanlagen, 9 Prozent nutzen sich selbststeuernde Geräte sowie miteinander vernetzte Komponenten und Anlagenteile.

Vom Beginn der Industrialisierung bis zur Industrie 4.0 (Bildquelle: ABB)

Vom Beginn der Industrialisierung bis zur Industrie 4.0 (Bildquelle: ABB)

Daten zentralisieren und allen Teilnehmern zur Verfügung stellen

Ein wesentliches Element in Szenarien von Industrie 4.0 sind cyber-physische Systeme – sie lassen sich am Beispiel von Tankstellen anschaulich erklären: Sämtliche Anlagen in Deutschland senden ihre Benzinpreise an eine zentrale Meldestelle. Dadurch existiert jede Tankstelle zwei Mal: als reales Objekt und als virtuelles Datenobjekt im Netz. Die Wertschöpfung findet darauf aufbauend statt – Apps ermitteln die preiswerteste Tankstelle in der Umgebung des Interessenten. Die drei Ebenen – physisches Objekt, Datenobjekt im Netz und App – bilden ein cyberphysisches System. „Neu an diesem Szenario sind nicht die Technologien, sondern deren Kombination auf neue Weise“, sagt Rainer Drath, Program Manager und Senior Principal Scientist am ABB Forschungszentrum in Ladenburg. „Die Tankstellenthematik – so einfach sie klingt – ist ein Musterbeispiel für die Idee und Denkweise hinter Industrie 4.0: Es beruht darauf, dass Tankstellenbetreiber herstellerübergreifend auf neue Weise vernetzt werden – mit standardisiertem Datenzugriff. Tankstellen-Apps werden bereits heute von Millionen von Menschen genutzt. Der Quantensprung ergibt sich aus der massenhaften Teilnahme der Tankstellen, der Verfügbarkeit von Echtzeitpreisinformationen und der Entwicklung sinnvoller Apps durch Dritthersteller.“

Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart hat in seiner Studie „Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0“ die neuen Technologien untersucht. „Wir wollten herausfinden, welche Herausforderungen sich mit Industrie 4.0 besser lösen lassen“, sagt Tobias Krause, Diplom-Wirtschaftsinformatiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am IAO. „Zu den Herausforderungen zählt ein sich rasch verändernder Markt, der Produkte immer schneller und in vielen Varianten fordert.“ Wenn die deutsche Industrie die technischen Möglichkeiten nutze, könne sie mit hochkomplexen Produkten und Produkt­varianten erfolgreich sein. „Spannend im Szenario von Industrie 4.0 sind Verknüpfungen“, sagt Krause. „Zur Messung einer Öltemperatur kommt zum Beispiel die Analyse und Prognose, ob eine Maschine gewartet werden muss, um einem Ausfall vorzubeugen. Wir sehen anhand von Echtzeit­daten, wie es um die Produktion im Moment steht, und entscheiden auf dieser Basis, wie wir weiter produzieren.“

Die vierte industrielle Revolution berührt alle Bereiche um die Produktion. (Bildquelle: ABB)

Die vierte industrielle Revolution berührt alle Bereiche um die Produktion. (Bildquelle: ABB)

Zusammenspiel von Mensch und Automation entscheidend

Neben der technischen Ausgestaltung von Industrie 4.0 ist das künftige Zusammenspiel von Mensch und Automation ein entscheidender Aspekt der IAO-Studie. „Wir erwarten nicht, dass alles automatisiert wird. Eine vollautonome, menschenleere Produktion wird es nicht geben“, sagt Krause. „Die menschliche Arbeit bleibt ein Schlüsselfaktor für Produktivität. Der Mensch reagiert intelligent, ohne für jede einzelne Situation programmiert zu sein; er ist kreativ, inhaltlich flexibel und stellt sich auf neue Arbeitsabläufe ein. Wenn die Mitarbeiter in der neuen Technik einen Mehrwert für die eigene Arbeit sehen, wird die Akzeptanz einfach zu erreichen sein.“

In der Produktion der Zukunft unterstützen mobile Kommunikationsmittel wie Mobiltelefone oder an der Montagestelle angebrachte Tabletcomputer die Mitarbeiter. „Das Ziel sollte sein, die Menschen als Entscheidungskompetenz mit ins System einzubeziehen. Dazu müssen sie die notwendigen Informationen passend aufbereitet ­erhalten“, meint Krause. „Mit den mobilen Kommunikationsmitteln ist es zusätzlich möglich, Kapazitätsflexibilität zu organisieren. Wenn eine Maschine defekt ist, können miteinander vernetzte Mitarbeiter rasch abstimmen, wer die Reparatur beherrscht und gerade verfügbar ist. Diese kooperative Lösung geht schneller und entlastet den Meister, der heute vieles entscheiden und koordinieren muss.“

Engineering und Inbetriebnahme arbeiten parallel

Die Forschung arbeitet daran, über Augmented-Reality-Brillen Montageanweisungen einzublenden. Dabei ist es möglich, Lernfortschritte einzubeziehen: Ein erfahrener Mitarbeiter, der die Montage schon mehrfach erledigt hat, bekommt nur ausgewählte Informationen. Dagegen wird ein neu einzulernender Mitarbeiter alle Informationen Schritt für Schritt erhalten. „Hoffentlich kommen wir durch Industrie 4.0 zu Lösungen, die dem Menschen monotone Montageaufgaben immer weiter abnehmen und bei denen Mitarbeiter immer mehr Entscheidungen dezentral treffen“, sagt Krause. „Die Beteiligung an Entscheidungen trägt grundsätzlich zu erfüllterer Arbeit und größerer Zufriedenheit bei.“

Bevor die Produktionsarbeiter in der neu gearteten Fertigungsindustrie ans Werk gehen können, müssen Anlagen konstruiert und elektrifiziert, die Software entworfen und die gemeinsame Funktion geprüft werden. „Wo bisher sequenziell zunächst Mechanik sowie Elektrik und danach die Software zum Test an der fertiggestellten Maschine bearbeitet wurden, arbeiten Engineering und Inbetriebnahme parallel“, sagt Nicolas Mauser, Projektleiter in der Software-Entwicklung für den ABB Automation Builder, eine Software, die Anwender beim Automatisieren ihrer Anlagen unterstützt. Hierbei kommen künftig Ansätze der Industrie 4.0 zum Tragen: „Das Parallelisieren setzt standardisierte Daten und ein virtuelles Modell voraus, weil ein physisches Objekt schlichtweg noch nicht existiert.“ Die am Computer konstruierten Anlagen lassen sich dann virtuell testen und in Betrieb nehmen. Das heißt dann Virtual Comissioning. Das Standardisieren von Planungsdaten und ein hoher Detailgrad bei virtuellen ­Inbetriebnahmen verringern die Inbetriebnahme- und Rüstzeiten sowie das Projektrisiko für Anlagenplaner und -betreiber.

Ein Modell berechnet mehrere Zyklen zugleich

Das virtuelle Modell bietet zudem Vorteile für reale Anlagen. Beispielsweise lassen sich Produktionsparameter in das Modell zurückspielen, um Hinweise zu Wartung und Anlagenoptimierung zu erhalten. Veränderungen an der Anlage, etwa bei Umrüstungen, kann ein Mitarbeiter vorab im virtuellen Modell durchführen, was teure Stillstands- und Rüstzeiten verkürzt. Generell rechnen sich die initialen Kosten des virtuellen Modells durch den Vorteil, schneller und mit präziseren Kosten am Markt zu sein. Der Nutzen verstärkt sich durch das Verwenden über mehrere Maschinenzyklen hinweg. Ähnliches gilt für das Modularisieren in der Prozessindustrie.

„In der Automobilindustrie sind virtuelle Umrüstungen bereits üblich. Für den Maschinenbau eröffnen sich Chancen durch Standardisierungen und Bibliotheken. Wenn entsprechend definierte virtuelle Modelle zum Download bereitstehen, wird die gesamte Virtualisierung effizienter und wirtschaftlicher“, meint Mauser. „Der ABB Automation Builder erfüllt die technologischen Anforderungen an eine virtuelle Inbetriebnahme, aber die Prozesse, um Simulationsmodelle zu erstellen, müssen noch deutlich effizienter werden.“

Standardisierte Daten notwendig

Um virtuelle Geräte automatisch in ein gemeinsames Simulationsmodell zu integrieren, sind standardisierte elek­trische und mechanische Daten, Steuerungs- sowie Simulationsdaten notwendig. Bei vielen, meist organisatorischen Hürden bietet Industrie 4.0 vielversprechende Ansätze: Geräte, die weitere Informationen mit sich führen, Ethernet-basierte Kommunikation im gesamten Automatisierungssystem und eine einfache Integration durch eine standardisierte Topologie.

„Wir erwarten, dass Maschinenausrüster und Integratoren bei der virtuellen Inbetriebnahme den Vorreitern der Automobilindustrie folgen“, sagt Mauser. „Diesem Schritt werden dann auch mittelständische Komponenten-Hersteller folgen. Durch Industrie 4.0 wird sich der Prozess beschleunigen und die kritische Masse schneller erreicht.“ Das würde bedeuten, dass Geräte und ihre Daten in standardisierten Formaten als virtuelle Modelle im Netz zur Verfügung stünden.

Angesichts von Industrie 4.0 sind Unternehmen jedoch auch mit neuen Herausforderungen in Bezug auf die Cyber Security konfrontiert. „Die immer stärkere Vernetzung vergrößert die Angriffsfläche. Bedrohungsmodelle, bei denen das eigene Netzwerk als potenziell gefährlich angesehen wird, gewinnen an Bedeutung“, sagt Sebastian Obermeier, Senior Principal Scientist am ABB Forschungszentrum in Baden-Dättwil. Der Spezialist für Cyber Security hat jedoch auch die Vorteile vor Augen: „Industrie 4.0 als zukünftiges Szenario gibt uns die Chance, Cyber Security als Basistechnologie direkt in die Entwicklung einfließen zu lassen. Wir können von Grund auf ein System planen, das die identifizierten Bedrohungen so weit wie möglich abschwächt.“

Sicherheit als ­kontinuierlicher Prozess

Um Angriffen zu begegnen, ist ein vielschichtiges, ständig aktualisiertes Sicherheitskonzept hilfreich. „Sicherheit ist kein Produkt, das man einmal kauft, sondern ein kontinuierlicher Prozess“, sagt Obermeier. „Die einzelnen Lösungen sollten mit den in einer Bedrohungsanalyse erkannten Gefahren verknüpft werden. Falls Schutz – wie bei Geheimdienstangriffen – mit vertretbaren Mitteln nicht möglich ist, hat zumindest das Erkennen von Angriffen Priorität.“

Auch Produktionssysteme sollten die Anwender im Kontext von Industrie 4.0 kontinuierlich anpassen. Für Leitsysteme bietet ABB das Automation Sentinel-Life-Cycle-Management- und -Supportprogramm an. Dieses prüft Sicherheits-Updates von Microsoft sowie Patches, Scan-Engines und Updates der Virendefinitionsdateien zunächst in einem Referenzlabor von ABB, bevor es sie für den allgemeinen Einsatz freigibt. Der Cyber Security Monitoring Service von ABB identifiziert, klassifiziert und priorisiert Möglichkeiten zur Verbesserung der Sicherheit des Leitsystems. Der Nutzer greift auf den ABB Cyber Security Monitoring Service über den ABB Serviceport zu. Dabei handelt es sich um eine remote-basierte Plattform zur individuellen und sicheren Bereitstellung von Services sowie zur Einbindung von ABB-Experten.

Um auch in Zukunft bestmöglichen Schutz bereitstellen zu können, forscht ABB an der Automatisierung von Sicherheitskonfigurationen, der digitalen Forensik, sicheren Architekturen und der Nachvollziehbarkeit von Benutzerinteraktionen. „Ein wichtiger Schritt bei der Konfiguration von Industrie-4.0-Anlagen ist eine sicherheitsrelevante Härtung, die alle Softwarebestandteile und Funktionen entfernt, die zur Erfüllung der eigentlichen Aufgabe des Systems nicht zwingend notwendig sind“, sagt Obermeier. „Zur Erkennung von Angriffen hat sich Fuzzy Hashing – ein Verfahren zur Ähnlichkeitsanalyse – als hilfreich herausgestellt. Mit dieser Methode lassen sich Veränderungen im Leitsystem anhand eines Ähnlichkeitswertes nachweisen und analysieren.“

Industrie 4.0 in der Kunststoffbranche

Wie lassen sich miteinander vernetzte Maschinen, Geräte und Produkte nutzen, um die Bauteilqualität zu erhöhen, die Produktionskosten zu senken und überhaupt die Produktion effizienter zu machen? Denn die eigene Produktion mittels MES jederzeit im Blick zu haben und beispielsweise Wartungsaufträge auch vom anderen Ende des Betriebsgeländes zu erteilen, ist zwar eine praktische und gern eingesetzte Funktion. Allerdings gehört das für viele Unternehmen – je nach betrachteter Ausbaustufe der Software und der Anzahl der enthaltenen Details – seit mehreren oder gar vielen Jahren zum Alltag. Was trägt also die vielbeschworene Industrie 4.0 bei? Diese Frage stellte sich auch der VDMA-Fachverband Kunststoff- und Gummimaschinen. Der eigens eingerichtete Lenkungskreis aus technischen Führungskräften der Kunststoff- und Gummi­maschinenhersteller suchte Antworten, wie sich die Konzepte der vernetzten Produktion in die Kunst­stoff-Branche übertragen lassen. Das Ergebnis lautet: Potenzial für zum Beispiel zur Qualitäts­sicherung/-steigerung sind durchaus vorhanden. Allerdings fehlen noch konkrete Nutzungsszenarien, um weitere Fragen bezüglich Standardisierung von Schnittstellen und Datensicherheit anzugehen. Darauf aufbauend gründeten der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI), Frankfurt, der VDMA, Frankfurt, und der IT-Verband Bitkom, Berlin, die Plattform Industrie 4.0. Vor allem die Standardisierung über die IT-Security bis hin zu einer Forschungs-Roadmap stehen im Zentrum des Schaffens. Auf der Hannover Messe 2015 präsentierte die Plattform erste Ergebnisse.

ist Leiter des deutschen Forschungs­zentrums von ABB in Ladenburg.

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