August 2011

Dass die Bundesrepublik Deutschland seit Juni 2011 ihre strategischen Erdölreserven angreifen muss, weil Lybien als Lieferant ausfällt, signalisiert, wie störanfällig das auf fossilen Rohstoffen basierende System ist. „Die Erdölreservern – abhängig vom Prognosemodell – reichen noch für etwa 30 bis 40 Jahre“, so Prof. Dr. Ferdinand Schüht. Er ist Direktor am Max Planck Institut für Kohleforschung, Mülheim, jenem Institut, an dem der Chemie Nobelpreisträger Prof. Dr. Carl Ziegler an den Kunststoffen Polyethylen und Polypropylen arbeitete. Die Prognosemodelle müssen verschiedene Variablen berücksichtigen. Mit steigendem Ölpreis beispielsweise werden auch noch Quellen in 5.000 Meter Tiefe für die Erdölförderung interessant. Diese verlängern dann die Reichweiten. Steigt jedoch der Verbrauch in den Schwellenländern China und Indien, sinken die Reichweiten wiederum, wobei alle Prognosemodelle mit Unsicherheiten behaftet sind.
Bislang wird als Substitut überwiegend über das Biopolymer Polymilchsäure (PLA) berichtet. Der Kunststoff hat eine hohe Wasserdampfdurchlässigkeit, ist nicht einfach zu verarbeiten und biologisch abbaubar. An einer Verbesserung der Eigenschaften von PLA arbeitet die Forschung zurzeit intensiv. Im Gegensatz zu diesem Werkstoff besitzen die meisten Polyamide eine hohe thermische Beständigkeit. Polyamide, wie beispielsweise PA12, nehmen nur wenig Wasser auf und sind widerstandsfähig gegen polare und unpolare Lösemittel. Bei einer hohen Schlagzähigkeit können diese Werkstoffe im Temperaturbereich von -50 bis 120 °C eingesetzt werden.
Beide Materialklassen, Polyamide (PA) und Polymilchsäure (PLA), wurden bereits Anfang der 30er Jahre durch den DuPont Chemiker Wallace Hume Carothers entwickelt. Seine Versuche führten zum Polyamid Nylon. Nachwachsende Rohstoffquellen waren Haferspelzen und Ölsäure. Die Ölsäure ist Bestandteil pflanzlicher und tierischer Fette.
Rohstoffquelle für heutige biobasierte Polyamide ist Rizinusöl. Es wird aus dem Samen des afrikanischen Wunderbaumes gewonnen. Ricinus communis wächst vor allem in Indien und Brasilien sowie in China. Das Rizinusöl besteht zu 80 bis 85 Prozent aus Rizinolsäure, dem Ausgangstoff zur Polyamid Produktion. Zur Entfernung der unerwünschten Bestandteile wird das Öl zunächst raffiniert, das heißt entschleimt, entsäuert und mit Wasserdampf behandelt. Dann kann es in den bestehenden Anlagen in die gewünschten Monomere zur Polyamidherstellung umgewandelt werden. Jährlich werden etwa 600.000 Tonnen des Öls gewonnen. Hiervon importiert allein Deutschland ungefähr 40.000 Tonnen. Diese gehandelten Mengen zeigen aber, dass es sich im Vergleich zum gesamten Kunststoffmarkt noch um einen sehr kleinen Anteil handelt.
Bei Evonik beschäftigt man sich seit etwa vierzig Jahren mit Polyamiden. Daher verfügt das Unternehmen bei der Produktion und Anwendung über ein umfassendes Know-how. Am Standort Shanghai werden PA 6.10, PA 10.10 und PA 10.12 hergestellt. Den Trend zur Erdölsubstitution erkannte der Rohstoffhersteller bereits vor mehreren Jahren. Um Alternativen zu schaffen, startete das Unternehmen mehrere Projekte zur Herstellung von Hochleistungskunststoffen aus nachwachsenden Rohstoffen. Ein Schwerpunkt dabei ist die Entwicklung biobasierter Polyamide. Der Markt ist wichtig, denn umweltbewusste Abnehmer fragen immer häufiger nach Produkten aus nachwachsen Rohstoffen. „Zusammen mit unseren Kunden erarbeiten wir maßgeschneiderte Lösungen“, so Dr. Jürgen Herwig, Leiter Entwicklung verschiedener Wachstumsprojekte. „Der chemische Aufbau der Polyamide ist ähnlich wie bei den fossil basierten Polyamiden. Auch haben die Produkte das gleiche Leistungsvermögen wie erdölbasierte PA-Kunststoffe.“ Einen weiteren Vorteil sieht das Unternehmen in der CO2-Bilanz der Polyamide: Werden Inhaltsstoffe der Pflanzen in chemische Rohstoffe umgewandelt und weiter verarbeitet, wird dafür zwar Energie verbraucht und Kohlendioxid erzeugt, meist aber deutlich weniger, als bei Verwendung fossiler Rohstoffe. Anwendungen finden diese Kunststoffe für Kraftstoff- und Bremsleitungen im Automobil, für Erdölförderleitungen und Gasdruckrohre sowie bei Filamenten wie Borsten für Zahnbürsten, Schuhsohlen hochwertiger Sportschuhe, Kabelummantelungen, Gehäusen antielektrostatischer Geräte oder auch bei Kathetern. Noch sind die Biokunststoffe aber eher Nischenprodukte, doch die Nachfrage wächst.
Die BASF beantwortet die Frage nach nachwachsenden Rohstoffen und Biokunststoffen deutlich kritischer: „Grün“ und „Bio“ seien nach wie vor heiß diskutiert, Nachhaltigkeit sei jedoch ein komplexeres Thema. Ob ein Einsatzstoff nachhaltig sei, hängt von zahlreichen Faktoren ab. In einigen Fällen könne ein fossil basierter Rohstoff im Vergleich zu einem nachwachsenden Rohstoff ein günstigeres Umweltprofil haben: zum Beispiel, wenn Faktoren wie Flächen- und Wasserverbrauch mit in Betracht gezogen werden. Die Ludwigshafener wählen ihre Ausgangsstoffe daher spezifisch von Fall zu Fall aus und nutzen sie unabhängig von ihrer Quelle so sparsam und effizient wie möglich. Das Unternehmen erwartet, dass Biokunststoffe auch weiterhin kleinvolumige Produkte bleiben. Sie werden dort eher als Spezialitäten betrachtet, die das Kunststoffportfolio ergänzen, indem sie auf Basis ihrer Leistungsfähigkeit neue Lösungen bieten und neue Anwendungen zugänglich machen. Zu dieser Klasse von Kunststoffspezialitäten gehört auch Ultramid Balance, ein Polyamid 6.10. Es ist ein zu mehr als 60 Prozent biobasiertes Polyamid. Das Produkt befindet sich bereits seit Jahrzehnten im Portfolio des Rohstoffherstellers. Im Zuge der Diskussionen über die Nutzung nachwachsender Rohstoffe hat es jedoch seit einigen Jahren wieder ein erhöhtes Interesse hervorgerufen. Eingesetzt wird es vor allem dort, wo bisher meist langkettige erdölbasierte Polyamide wie PA12 oder PA 6.12 verwendet wurden. Der Werkstoff ist daher besonders interessant für den Automobilbau und die Elektrotechnik.
Verfügbarkeit und die langfristige Preisstabilität biobasierter Kunststoffe werden, so der Rohstoffhersteller aus der Pfalz, von den Verarbeitern aber durchaus auch kritisch gesehen. „Inzwischen regen sich erste Stimmen, die sich bei einem biobasierten Polyamid fragen, ob man dieses spezielle Eigenschaftsprofil nicht auch auf konventioneller Basis erreichen könne. Es besteht die Befürchtung, dass Verfügbarkeit und Preisstabilität von biobasierten Stoffen durch Ernteschwankungen oder -ausfälle beeinträchtigt werden“, gibt Dr. Matthias Scheibitz, Produktentwicklung technische Kunststoffe, zu bedenken. Hinzu kommt die anhaltende Diskussion rund um die Konkurrenz zur Nahrungsmittelerzeugung. Dies ist allerdings ein Thema, das bei Polyamiden nicht relevant ist, da sich alle biobasierten Polyamide, die zurzeit im Markt verfügbar sind, von Rizinusöl ableiten lassen.
Neben PA 6.10 gibt es weitere Polyamide, die teilweise oder vollständig aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden: PA 11 ist zu 100 Prozent biobasiert und wird schon seit vielen Jahren unter anderem im Offshorebereich eingesetzt. Auch PA 10.10 basiert zu 100 Prozent auf nachwachsendem Rohstoff, bedient aber nur einen sehr kleinen Nischenmarkt. PA 4.10 (DSM; Ecopax) basiert ebenfalls auf der Rohstoffbasis Rizinusöl.
„Will man in Zukunft verstärkt auch die belebte Natur für die Herstellung von Polyamiden nutzen, so kann das langfristig am besten über so genannte Drop-in-Lösungen funktionieren“, beurteilt Scheibitz die Synthesesituation „Wenn sich existierende Monomere, wie sie bei klassischen Polyamiden eingesetzt werden, auf eine nachwachsende Rohstoffbasis stellen ließen, so könnten die klassischen Polyamideigenschaften erhalten bleiben.“ Nur solche Polyamide ­- oder allgemein technische Kunststoffe – werden seiner Ansicht nach in absehbarer Zeit eine realistische Marktperspektive haben. Denn mit bereits bekannten, existierenden Monomeren lassen sich die bekannten Kunststoffe auch in bestehenden Anlagen fertigen. Junge Start-up-Unternehmen beschäftigen sich bereits damit, weitere zentrale Bausteine der PA-Synthese aus der belebten Natur zu gewinnen. Dazu kommt, dass sich ein Produkt, für dessen Markteinführung neu zu entwickelnde Anlagen notwendig sind, nur sehr langsam durchsetzen wird. „Diese Erfahrung haben wir zusammen mit unseren Kooperationspartnern bei der Forschung zu fermentativ hergestelltem PA 5.10 gemacht.“
So bleiben als Ausblick für die Zukunft mehrere Fragen offen: Werden sich biobasierte Kunststoffe alleine deshalb durchsetzen, weil sie aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt und damit die Nachfrage nach „Öko“ bedienen oder erst dann, wenn unsere Erdölvorräte tatsächlich erschöpft sind. Werden Kunststoffe ausschließlich danach ausgewählt, welche technischen Eigenschaften und Merkmale sie haben, oder auch, wie sie unsere Anforderungen an die Nachhaltigkeit erfüllen? Und last but not least – werden Polyamide aus nachwachsenden Rohstoffen immer Spezialitäten bleiben, oder schafft es die Forschung, Typen zu entwickeln, deren Eigenschaftsprofil demjenigen konventioneller Polyamide so sehr gleicht, dass letztere ersetzbar werden?

Neue Technologien
Bio-Polyamide

Biobasierte Kunststoffe wie die Bio-Polyamide besetzen derzeit nur eine kleine Marktnische, obwohl es sie seit vielen Jahren gibt. Doch sie gewinnen zunehmend an Aufmerksamkeit, insbesondere, da sie über beste Eigenschaften für Anwendungen in der Automobil- und Elektroindustrie verfügen. Denn Rohstoffe müssen zunächst und zuallererst den Anforderungen in technischer Hinsicht genügen. Daher kommen bei Hochleistungskunststoffen derzeit noch in der Hauptsache konventionelle PA zu Einsatz. Doch der Markt für biobasierte Polyamide wächst und die Nachfrage steigt. Mit der Verknappung
des Erdöls ist diese Werkstoffklasse auf lange Sicht eine ernstzunehmende Alternative – auch für Hochleistungskunst-
stoffe.

Hintergrund
Wallace Hume Carothers

Carothers ist eine der tragischen Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte. Mit Anfang 40 besaß er bereits über 40 Patente und war als erster Industriechemiker Mitglied in der Amerikanischen Chemischen Gesellschaft. Carothers, von dem man annimmt, er sei manisch-depressiv gewesen, beging 1937 mit 41 Selbstmord. Bei seinem Tod ließ er seine schwangere Frau zurück.

 

 

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